‘untitled’
Braucht eine Ausstellung immer ein Publikum? Ist sie also in erster Linie adressiert an ein Gegenüber oder kann sie auch als in sich selbst ruhende Konstruktion Sinn ergeben? Ist sie da, wenn niemand sie sieht? Eigentlich richtet sich diese grundsätzliche Frage auch an die Kunst selbst: Entsteht sie und ist sie gerichtet, für jemanden jenseits des künstlerischen Individuums gemacht? Oder aber ist sie ihr ureigener Kosmos, den wir als Betrachtende bisweilen durchstreifen, winzig im Verhältnis zur Größe des Ganzen, ein Universum, das immer da ist, dessen innere Schönheit aber ganz unabhängig von der conditio humana existiert?
Es sind solche Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, als mir Wolfgang Ellenrieder – ich bin vor einem Tag als Ehrengast in der Villa Massimo angekommen – seine Austellung ›cartone – plastica – oro‹ in den Räumen am Ende der Künstlerateliers aufschließt. Es ist kalt hier, das Licht muss erst noch eingeschaltet werden und es entsteht einer dieser seltenen Momente, in denen man unvermittelt allein ist mit und in einer Ausstellung, fast ein wenig außerhalb der Zeit, umschlossen von nahezu vollkommener Stille. Ich fühle mich wie in meinen Jugendtagen, als ich zum ersten Mal allein in Dortmund die Schwelle eines Kunstmuseums überschritt: etwas scheu, fast ehrfürchtig, mehr störend als sich willkommen fühlend.
Aber natürlich ist das objektiv betrachtet völliger Unsinn, diese Ausstellung hatte ihre große Eröffnung, ihr Publikum, ihre Besuchszeiten. Offiziell ist sie beendet, geschlossen, nur die Werke wurden noch nicht wieder abgehängt und eingepackt. Nein, es hängt mit dem Ort selbst zusammen, dass man sich zurückgeworfen fühlt auf die ganz grundsätzlichen Fragen des künstlerischen Schaffens, denn dieser Ausstellungspavillon steht inmitten eines (zumindest im Frühling) geradezu paradiesischen Gartens in Rom, verborgen hinter einer hohen Mauer und gegen alle Widrigkeiten dieser Welt die Ordnung der Natur als Abbild menschlicher Kultur (und Kultiviertheit) behauptend: Geharkter Kies und getrimmte Hecken, Amphoren, Säulen und Wasserbecken, eine Obstbaumwiese, Blumenrabatten und Zypressenalleen – umfangen von einer Stille, in der man nur noch Vogel gezwitscher, Wasserplätschern und das leise Rauschen des Windes wahrnimmt, der das Sonnenlicht als tanzende Lichtpunkte durch die üppigen Bäume flackern lässt. Symmetrien und Sichtachsen prägen das Bild, grüne Bühnen, Plätze und Laubengänge, alte Bäume und frisch gepflanzte Blütenornamente. Menschen sind weder zu sehen noch zu hören, es ist früher Mittag.
Spätestens als wir über einzelne Bilder, ihre Entstehung und ihr schillerndes Changieren zwischen Fotografie, Assemblage und Malerei sprechen, tauche ich aus dieser sinnestauben Innensicht auf und spüre plötzlich die Reibung zwischen einem künstlerischen Werk und seiner verstummten Präsentation auf einer scheinbaren Insel der Glückseligen. Nein!, ruft spätestens jetzt der engagierte Ausstellungsmacher und Museumsdirektor in mir, natürlich brauchen Kunstwerke die Ausstellung, ein Publikum, sie wollen gesehen, diskutiert, geliebt und verrissen, befragt und begriffen werden! Erst dann, in der Rezeption erhalten die Werke ihren Sinn, treten heraus aus der solipsistischen Verhaftung im Denken einer Künstlerpersönlichkeit und erhalten gesellschaftliche Relevanz, weisen über den Kontext ihrer individuellen Entstehungsgeschichte hinaus. Doch eigentlich erst viel später wird mir so richtig klar, wie genau, erhellend, ja auch entlarvend diese Ausstellung an ihrem Ort wirkte – ob nun vom Künstler beabsichtigt oder nicht, frage ich dort nicht und mich selbst auch erst jetzt.
So wie in den Exponaten Ellenrieders das Spiel mit der Collage, mit den Maßstäben und dem Trompe l’œil, mit dem tatsächlichen Material, seinem Abbild und der Nachbildung betrieben wird, scheint sich darin ein direkter Kommentar auf die Situation des Künstlers, der Künstlerin im Stipendiatenatelier in Rom, im Park der Accademia Tedesca, wie es in Stein gemeißelt am Außentor steht, zu spiegeln; hier, wo sich jene splendide Einsamkeit des konzentrierten Arbeitens ebenso wie des grüblerischen Lustwandelns in direkter Nachbarschaft vollzieht zur schmutzig lauten Touristenmetropole, zu menschheitsgeschichtlichen Ausgrabungen oder dem wenige Straßen entfernten früheren Anwesen Benito Mussolinis, der Villa Torlonia, die heute als Museum in einem belebten öffentlichen Stadtpark möglichst wenig von ihrer finsteren Historie erzählen möchte.
Wir sitzen noch eine ganze Weile dann im geradezu idealen Atelier, zwischen hohen Wänden in einem licht durchfluteten Raum unter einem wunderschön in den Himmel abknickenden Nordlichtfenster. Was kann hier geschehen? Bieten die Schönheit, die Ruhe und das Zurückgeworfensein auf sich selbst gerade den richtigen Rahmen um neue Wege zu erproben? Oder verstummt man eher vor der Perfektion des Gebotenen, der Erhabenheit jahrhundertealter Meisterschaft und einer hier fast physisch spürbaren Last der großen Geschichte? Im Gespräch lässt sich darauf keine eindeutige Antwort finden, weder für den Künstler noch für mich selbst. Aber Ellenrieders Abschlusspräsentation wenige Monate später antwortet schließlich mit einem leichtfüßigen, souveränen Kontrapunkt: Vor den geschichtsträchtigen Gebäuden steht frech Gezimmertes, ein Kiosk aus Malerei und Fundstücken, Ausstellung und Servicestation zugleich, während das herrliche Atelier von einem überdimensionalen Zapfen okkupiert wird, bei dem sich eine Bleistiftzeichnung zum großen Muster multipliziert hat, das als Oberfläche eines aufgeblasenen Plastikornaments dient: die Welt als Collage, das Eigentliche als Parodie, das historische Erbe als Reibungsfläche – nicht die schlechteste Art, diesem so aus der Zeit gefallenen Ort einen Abschiedsgruß und ein persönliches Resümee zu schenken. Ja, es liegt ein tiefer Widerspruch in diesem Garten, aber es ist ein guter, einer, den man nutzen und lieben kann, den auszuhalten und produktiv zu wenden auch eine Wonne ist …
Roland Nachtigäller in
›Wolfgang Ellenrieder – Studio 11‹,
Deutsche Akademie Rom Villa Massimo, 2019