‘Glotzen und Glupschen’
Blick trifft auf Blick: Aus dem Geflecht von Farben und Formen, die sich hier und dort zu Schläuchen, seetanggrünen Stalagmiten, korallenroten Beeren oder fliederfarbenen Streptokokken verdichten, tauchen Augen auf. Gebannt von den Augen, die einem entgegenglotzen, erkennt man auf den Leinwänden, den Trägern des Bildes, das Tablett der Hl. Lucia, die uns ihre eigenen Augen präsentiert. Um Lucia von Syrakus rankt sich die Legende, daß sie sich die Augen ausriß, da ihr Bräutigam nicht aufhören wollte, ihre Schönheit zu preisen, sie jedoch das Gelübde der Keuschheit abgelegt hatte. Oder man sieht die Augen der Medusa, die sich hier ihren Weg
durch die Schlangenhaare zur Außenwelt bahnen. Die Spinnen, Regenwürmer, Schlangen, Eidechsen und Skorpione aber sind nicht wie bei Peter Paul Rubens bis ins Detail ausgestaltet, doch malt das innere Auge ihr Bild. Immer erwidern die Augen den Blick; lassen die Grenzen zwischen Betrachter und Betrachteten verschwimmen.
Der kugelige Augapfel hat sich aus der schützenden Augenhöhle geschält, hat sich vom restlichen Körper getrennt, steht hier für sich und zugleich als zentrales Organ des menschlichen Körpers, für den ganzen Menschen. Seit der Antike stellt sich die Frage, welcher unter den fünf Sinnen der edelste, aktivste, idealste, objektivste ist. Meist ist es das Auge, dem die Macht über die anderen Sinne zugesprochen wird. Es ist das Fenster zur Seele und zugleich ihr Spiegel, es ist des „Leibes Licht“, es sind „die Lampen des Körpers“. Es gilt als Symbol für geistiges Sehen, für Weisheit und Allwissenheit. Seine Anziehungskraft liegt darin, daß es den Menschen von innen und die Welt von außen spiegeln kann.
Bei Wolfgang Ellenrieder ist das Auge nicht wie bei Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer oder Michelangelo als Träger der ordnenden Einsicht und als Spiegel der Menschen- und Welterfahrung in wissenschaftlich-kritischer Darstellung und in lyrischer Erhöhung zu erleben. Es wird nicht wie für Redon zum Träger subjektiv-romantischer Besessenheit oder wie für Magritte zum ironischen Rätselbild der Leere. Ellenrieder versieht seine Leinwand mit diesem Sinnesorgan, um es zum „Beäugenden“ werden zu lassen. Man fühlt sich permanent beobachtet, die Augen folgen einem durch den Ausstellungsraum, prüfen die Kleidung, den Haarschnitt, die Haarfarbe, die Schuhe, die Verweildauer. Sie bilden sich ihre Meinung. Wie die Augen auf einem Bildschirm scheinen sie je nach der eigenen Bewegung nach rechts oder links zu rollen. Allerdings läßt er mit seinen Titeln Schusser, Murmeln oder Kugeln das Gefühl des Betrachters, observiert zu werden, zur lächerlichen Wahnvorstellung werden, zur typischen Verhaltensweise in einer Gesellschaft, in der man sich unablässig kritisch beäugt fühlt.
Thema ist hier: Sehen und gesehen werden, beobachten und beobachtet werden, beäugen und beäugt werden, hinterfragen und hinterfragt werden, wahrnehmen und wahrgenommen werden. Es wird an die Abhängigkeit des Bildes vom Sehakt als solchen erinnert, an die Verbindung zwischen Kunst und subjektiver Wahrnehmung. Je weniger eindeutig die Werke sind, desto mehr setzt der Betrachter seine Phantasie ein, zügelt den Strom seiner Assoziationen nicht. Wolfgang Ellenrieder agiert im Bereich der Unschärfe, denn „wenn unserem Geist durch die Sinne nur der leiseste Anklang einer Erinnerung geboten wird, setzt er sich in Bewegung und läßt nicht ab, bevor er sich nicht auf alles besinnt, was dazugehört. Wenn also unsere Sinne, die gleichsam die Pforte unseres Geistes bilden, von was immer für einer Sache ein Stückchen wahrgenommen und dies dem Geist dargeboten haben, dann nimmt der Geist dieses Stück entgegen und ergänzt das Fehlende.“ (Nach Maximus Tyrius, zitiert in Franciscus Junius, The Painting of the Ancients)
Schaulust und Scham gehören eng zusammen. Das Verbot des Hinsehens erhöht die Lust am Schauen. Fühlt man sich beim Schauen ertappt, blickt man weg. Häufig ist es jedoch unsere Phantasie, die tabuisierte Bilder erst malt. So meint man bei einigen Arbeiten Ellenrieders aus der Serie body check, nackte Haut zwischen Grashalmen hervorblitzen zu sehen. Die Haut als Schauplatz von Berührungen und Zärtlichkeiten läßt unmittelbar auf Beine, vielleicht sogar auf ineinander verschlungene Beine schließen. Sofort wandert man mit seinen Gedanken an das Ufer eines verlassenen romantischen Sees, Treffpunkt eines Liebespaares. Oder aber, hält man inne, handelt es sich hier vielleicht um Pornographie oder eine von Gewalt getränkte Szenerie? Manch einer sieht darin möglicherweise auch eine Anspielung auf Marcel Duchamps Werk „Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairag“? Hier zeigt Duchamp hinter verschlossener Holztür in krassem Realismus eine nackte, im Gras liegende Frau mit gespreizten Beinen. Was der Betrachter zu sehen bekommt, ist trotz aller Deutlichkeit rätselhaft. Er ist gezwungen, durch das kleine Guckloch zu blicken, um die liegende Frau zu entdecken. Ihr Kopf ist nicht zu erkennen. Der Betrachter wird zum Voyeur, jedoch ist es weniger die Frau, die ihn als solchen bloßstellt und beschämt, sondern der Besucher, der hinter ihm in der Reihe steht und fragt: „Was gibt es da zu sehen?“
In den Arbeiten body check entlarvt sich der Betrachter selbst als Voyeur. Der Künstler wäscht seine Hände in Unschuld und gibt dem Betrachter die Rolle des wüsten Phantasten. Denn auf den zweiten Blick entpuppen sich die nackten Beine als Würstchen, die sich im Gras tummeln. Wieder ist es Ellenrieder gelungen, den Betrachter zu täuschen, dessen Einbildungskraft in die Irre zu führen, seine Assoziation in eine bestimmte Richtung zu lenken, und ihn dann mit banalen Objekten vor den Kopf zu stoßen. Erotische Assoziationen beim Anblick der Würstchen, ihrer Form und Oberfläche sowie deren Inszenierung sind nicht zu vermeiden. Selbst der keuscheste Blick kommt nicht umhin, sich als heranschleichender, ja – als kriechender zu fühlen, angesichts des Blickwinkels der Aufnahme.
Bei beiden Bildserien setzt der Künstler Surrogate des menschlichen Körpers ein und erreicht, daß der Blick des Betrachters, animiert von diesen, unwillkürlich Analogien herstellt, seit André Breton eine Voraussetzung für das Sehen mit offenem Auge: „Ich sage, daß das Auge nicht offen ist, solange es sich mit der passiven Rolle eines Spiegels begnügt. ... Wahrlich, das Auge sollte in letzter Instanz nicht dafür geschaffen worden sein, Inventar aufzunehmen, wie das der Auktionatoren, noch mit der Illusion falscher Erkenntnis liebäugeln, wie das der Wahnsinnigen. Es (das Auge) war geschaffen, eine Leine zu werfen, einen Leitungsdraht zwischen den heterogensten Dingen zu spannen. Ein solcher Draht von größter Leitfähigkeit sollte es uns ermöglichen, in kürzester Zeit und ohne offensichtliche Kontinuität die Beziehungen aufzudecken, die in der Verkettung zahlloser physischer und seelischer Strukturen bestehen. ... Der Schlüssel zum geistigen Gefängnis kann nur durch den Bruch mit dieser lächerlichen Erkenntnisweise gefunden werden. Der Schlüssel liegt im freien und unbegrenzten Spiel der Analogie.“
Akt, Liebesszene oder Pornodarstellung: Man tappt in Ellenrieders Falle. Der lacht und läßt sich keine Täterschaft nachweisen. Mit leicht geröteten Wangen - sich selbst als Voyeur entlarvt – stiehlt man sich zu einem anderen Bild. Hier nun also wieder Murmeln oder Augen? Man gibt es auf, seine eigenen Assoziationen permanent zu überprüfen, besser läßt man sich treiben.
Stephanie Rosenthal in
›Wolfgang Ellenrieder – surrogate‹,
KunstRaum Drochtersen-Hüll, 2000