‘Appendix Projekt’
Am Ende des Blinddarms befindet sich ein Wurmfortsatz, der auch „Appendix vermiformis“ genannt wird. Ein wurmartiges Rudiment, das im Laufe der Evolution seine Funktion vermeintlich verloren hat. Für die meisten Menschen ist ihr in der Regel etwa zehn Zentimeter umfassender Appendix nicht spürbar, außer er entzündet sich. Das Risiko im Laufe des Lebens eine Appendizitis, eine Entzündung des Wurmfortsatzes, zu entwickeln, beläuft sich dabei auf etwa 7-8 Prozent. Dann aber schreitet die Entzündung schnell voran und muss innerhalb einer Operation, einer Appendektomie, zügig entfernt werden, droht doch sonst ein lebensgefährlicher Blinddarmdurchbruch. Appendix kann aber auch eine andere Bedeutung haben. Lateinisch stammt es vom Verb „appendere“ und lässt sich mit „anhängen“ bzw. „dazu-hängen“ übersetzen. So kann das Wort ganz einfach für Anhängsel oder Anhang stehen, kann beispielsweise den Zusatz zu einem Text meinen.
Vermeintliche Anhängsel, Wurmfortsätze, organische Weiterführungen finden sich auch in den Arbeiten des in München geborenen Künstlers Wolfgang Ellenrieder, der seit 2010 eine Professur für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig innehat. Anhängsel, die allerdings nur scheinbar funktionslos sind. Appendix – das kann hier zum Beispiel ein Überbleibsel einer alten Arbeit oder ein minderwertig wirkendes Material wie billiges Holz, Pappe oder Plastik sein. Die Verwendung alltäglicher Materialien erscheint auf den ersten Blick profan. Mehr noch, wenn die Bildträger aus Türbrettern bestehen, deren gitterartige Struktur die Arbeiten seitlich rahmt. All diese verschiedenen Materialien, noch dazu diverse Malweisen und Größenverhältnisse, könnten ein Bild allzu leicht optisch auseinander fallen lassen. Ellenrieder aber gelingt es, die unterschiedlichen Elemente zu stimmigen Gesamtkompositionen zusammenzuführen, sie in ein sich gegenseitig ausbalancierendes Gleichgewicht zu versetzen.
Das entspricht dem Appendix, der neueren Forschungen zufolge gleichsam nicht zwangsläufig funktionslos ist. Eine Serie aus Beobachtungen und Experimenten an der amerikanischen Duke University in North Carolina hat beispielsweise ergeben, dass das vermeintlich nutzlose Rudiment gesunde Darmbakterien in seiner Beschaffenheit als nischenartige Ausstülpung zu speichern vermag. Dieses Mikrobiom-Reservoir versetzt die Darmflora in die Lage, sich nach einer Durchfallerkrankung zügig regenerieren zu können.
Ähnlich organischen Fortsätze muten zudem die aufblasbaren Objekte von Ellenrieder an. In der Ausstellung findet sich ein metallisches, wolkenartiges Wandobjekt mit großen, schwarzen Schrauben, die sich in die Oberfläche zu bohren scheinen. „myCloud“ lautet der humoristische Titel der Arbeit. Dazu nimmt ein vielfarbiges, aus runden Formen bestehendes Objekt den größten der drei Ausstellungsräume ein, macht sich breit, erinnert an eine seltsam augenlose Kreatur. Davor bedecken drei kleine Luftkissen den Boden, scheinen sich vom großen Bruder gelöst zu haben. Verführerisch prall glänzt die hautähnliche Oberfläche, lassen sich repetitiv angelegte Schrauben, genauso wie Farbflecken, Umrisslinien und Farbspritzer ausmachen.
All diese in den Raum auskragenden Objekte wurden bereits vor Beginn der Schau aufgeblasen. Sammler erhalten allerdings beim Kauf eine genaue Anleitung zwecks Aufbau. Darin sind Handlungsanweisungen verzeichnet, steht geschrieben, mit wie viel Luft das jeweilige Kunstwerk befüllt werden soll. Die Sammler müssen ihre Kunst demnach eigens aufblasen. Ein Umstand, der angesichts der unterschwelligen Botschaft zum Schmunzeln verleitet. „Bla Bla Bla“ nennt sich überdies die große, raumgreifende Arbeit. Speist sie sich aus der heißen Luft all der belanglosen Gespräche über Kunst? Die vielfarbig gemusterten Objekte bevölkern den Kunstraum Tosterglope wie eine Art Blasen, verdrängen die umgebende Luft und könnten bei höchstem Druck sogar zum Platzen gebracht werden – was natürlich streng untersagt ist.
Eine Blase zum Platzen bringen? Das betrifft nicht nur diese Objekte, sondern vor allem die Illusion, welche die Arbeiten von Wolfgang Ellenrieder für gewöhnlich erzeugen. „Kleine Blase“ lautet dazu passend der Titel einer zweidimensionalen Arbeit, in welcher eben diese Blase mit kleinen Füßen fast figurativ anmutet. In Arbeiten wie dieser ist allerdings nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint. Was zunächst wie Holz, Pappe, Plastik oder Metall wirkt, kann sich bei näherem Hinsehen plötzlich als gemalt entpuppen oder Gemaltes als gedruckt. So erweisen sich zum Beispiel die Schrauben auf den aufblasbaren Objekten als nicht echt. Montagen oder Collagen ahmen reale Materialien nach, fügen sich rein visuell zusammen – und dann sitzt doch wieder etwas dreidimensional auf. So beispielsweise gelbes Acrylglas, dass in der Arbeit mit dem bezeichnenden Titel „GELB" schablonenartig die malerische Durchgängigkeit bricht und trotzdem dahinter verborgene Elemente sichtbar hält. Selbst Schatten sind keine eindeutigen Indizien für dreidimensionale Körper.
Ist Ellenrieder ein Illusionist? Jemand, der mit technischen Mitteln die Sinne des Publikums zu täuschen vermag? Zunächst einmal könnte man ihn als eine Art Alchemisten bezeichnen; zumindest mit Blick in seine Münchner Wunderkammer. Schließlich finden sich in seinem Atelier diverse Materialien und Malmittel, mischt er eigenhändig die Farben mittels Pigmenten und Bindemitteln an. So kann er genau steuern, welche der Farben sich mal deckend und mal transparent über die jeweils andere legt. In mehreren Schichten baut sich die Öl- oder Acrylfarbe auf, bis sie beinah opake Objekthaftigkeit erlangt oder gleich einem luziden Schleier auf dem Grund aufliegt. Hierfür nutzt er Werkzeuge wie Pinsel, Schwamm oder Sprühpistole.
Ellenrieder ersinnt seine vielschichtigen Gebilde zunächst aber als grobe Zeichnungen, die sich anschließend in digitale Skizzen verwandeln. Im virtuellen Raum lassen sich die Bilder, Skulpturen sowie architektonischen Interventionen folgend nach Belieben zusammensetzen oder wieder auseinandernehmen. Ein Vorgang, der sich auch in Arbeiten wie „BLAU“ widerspiegelt, erinnert diese in den übereinander drapierten Strukturen und Elementen auf gitterartigem Hintergrund an die Benutzeroberflächen von digitalen Bildbearbeitungsprogrammen. Eine weitere Besonderheit lässt sich darüber hinaus anhand der gedruckten Elemente ausmachen. Für gewöhnlich verlieren Drucksachen bei Vergrößerung zunehmend an Qualität, bei Ellenrieder scheint letztere jedoch gegenteilig immer besser zu werden. Jede Pore, jede Faser des Materials wird erkennbar, je näher man tritt.
Schließlich rinnen scheinbar dickflüssige Farbnasen über hintergründige Rasterstrukturen, sitzen dreidimensionale Objekte auf wässrigen Pinselstrichen, findet sich versprengte Farbe in Klecksen über graffitiartigen Linien – es gibt einiges zu entdecken. Ein Illusionist ist Ellenrieder insofern, was das Spiel mit der Wahrnehmung der Betrachtenden betrifft, deren Sehgewohnheiten er bewusst unterläuft. Eigentlich aber ist er kein Illusionist, weil die Arbeiten entlarvt werden wollen, die Täuschung soll vonseiten des Publikums aufgedeckt werden. Die Entschlüsselung ist elementarer Bestandteil der Werke. Was ist also real und was fake? Was ist Wirklichkeit und was Fiktion? Fragen, die sich angesichts von Falschinformationen, digital manipulierten Bildern und Videos auch im Alltag immer dringlicher stellen. Im virtuellen Raum lassen sich Inhalte zudem immer schwieriger verifizieren. So leben wir zunehmend in einer brüchigen, porösen Wirklichkeit, die mehr und mehr in ihre Einzelteile auseinander zu fallen droht.
Ellenrieders Arbeiten reflektieren solch aktuelle Entwicklungen, aber lassen das Publikum selbst ein Urteil fällen. Am besten ließen sie sich vielleicht als diskontinuierliche Erzählungen im Stil von Filmen wie „Pulp Fiction“ oder fragmentarischen Romanen beschreiben. Anknüpfend an letztere finden sich in den kleinformatigen Bildern wiederholt Sprechblasen mit uneindeutigem Inhalt wie in „GELB“ oder aber lesbare Buchstabenfolgen. Plötzlich ploppt im Stil von Comics „Hot Deal“, „Crash“ oder „Super“ auf. Manchmal sind es aber auch nur einzelne Buchstaben, denen verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden können oder aber die als abstrahierte Zeichen für sich stehen. So kommen in der Arbeit „00-ooo“ Zahlen und Buchstaben ohne Kontext daher, könnten als Bestandteile einer menschlichen Figur gedeutet werden.
Insgesamt bewegt sich Ellenrieders Kunst an den Unschärfelinien zwischen zwei Zuständen, wechselt mal zur einen und dann wieder zur anderen Seite. Für einen Moment sind die Arbeiten aber beides gleichzeitig: real und fiktiv, stabil und brüchig, flächig und tief. Intuitiv versuchen wir irgendeinen Ankerpunkt zu finden, wollen einen konkreten Ort sowie eine Zeit ausmachen, suchen nach etwas Figurativem, aber scheitert daran. Und genau das ist die besondere Qualität der Arbeiten. Denn in diesem Moment vereint sich alles zu einer simultanen Erzählung, auch wenn in der Herstellung eine Chronologie vorherrschte. Alles geschieht zugleich, wenn im dauerhaftesten Medium so etwas wie Augenblicklichkeit, Momenthaftigkeit erzeugt und festgehalten wird. Dann möchte man am liebsten mit den Augen ein Bad nehmen in der satten Farbigkeit, in den lebendigen Strukturen und zuvor allzu sichere Annahmen allesamt über Bord werfen.
Julia Stellmann