‘Kiosk des Glücks’
Als Institution ist uns der Kiosk wohlvertraut: das Büdchen um die Ecke, das uns auch am Wochenende und zu später Stunde noch die Notversorgung garantiert. Kleine Inseln im Großstadt-Meer mit magischer Anziehungskraft für Gestrandete – Nighthawks, Obdachlose, Großstadtopfer jeglicher Couleur, allesamt auf der Suche nach kleinen Glücksmomenten in Form von Zigaretten, Jägermeister, Dosenbier und Rotwein, die sich am nächsten Morgen meist noch (Kopf-)schmerzhaft in Erinnerung rufen. Manchmal auch nur für einen Kaugummi, der schlechtem, alkoholgetränktem und verrauchtem Atem einen Hauch von Frische geben soll. Für Neuigkeiten in gedruckter Form. Orte des kurzen Innehaltens auf der Flucht vor trostlosem Alltag, Kurzzeit-Asyl vom Pappverschlag im Brückenbogen drei, von der U-Bahnstation, dem Apartment-Studio mit gähnend leerem Kühlschrank oder vom ebenso leeren und grauen Familienalltag. Eine Insel, auf der man sich versteht – auch ohne Worte oder nur kurz angebunden, ein Soziotop der Solidarität in Verlorenheit und Einsamkeit.
Hier gibt es nur das kleine Glück, den Moment zum Innehalten, die kurze Begegnung, in der die Anonymität für einen kurzen Augenblick ein Gesicht bekommt. Ein Tauschgeschäft, das für jeden auch noch so Abgebrannten noch bezahlbar ist. Und doch kein Ort zum Bleiben, sondern nur zum Weiterziehen. Eine eigenartige Mischung, eine Gleichzeitigkeit von Heimat und Fremde, von Innen und Außen.
Das Wort ›Kiosk‹ kommt ursprünglich aus dem Persischen [kūšk] und bezeichnet keine Institution oder Funktion, sondern einen Architekturtypus: Ein Kiosk ist ein orientalisch-exotisches Gartenhaus, ein offener Pavillon inmitten von Gärten oder der Natur. Seit dem 13. Jahrhundert sind solche Kioske in Indien, in Persien und in der Türkei bekannt und kamen seit dem 18. Jahrhundert im Zuge der Orientalismus-Begeisterung auch in Europa in Mode. Kioske sind Orte der Poesie und der Romantik, die das Naturerlebnis im Komfort der Zivilisation möglich machen. Im Gegensatz zum Großstadt-Kiosk zwar Luxus-Inseln für höfische Träumer, aber vergleichbar doch in ihrem Inseldasein, das Zuflucht bietet für ein paar Momente vergänglichen Glücks. Es ist die Offenheit und Durchlässigkeit zu ihrer Umgebung, die Gleichzeitigkeit von Innen und Außen, von vertrauter Zivilisation und Fremde, die beiden Kiosk-Typen gemeinsam ist.
Im KUBUS hat er sich klammheimlich auch noch in die Kunst eingeschlichen – und bietet dort vorübergehend Bildern eine Bleibe. Der Kiosk: Exotik und romantischer Garten-Luxus, Kunst- und Kulturasyl, Großstadtoase mit anschließender Hangover-Garantie. Flüchtiges Innehalten, Kurzzeit-Parkplatz für Rast- und Heimatlose, Glücksleuchten in der Traurigkeit und Banalität des Alltags. Chateau Migraine bevor der Kopfschmerz kommt.
Reinhard Spieler in
›Wolfgang Ellenrieder – Kiosk des Glücks‹,
Lubok Verlag Leipzig, 2017