‘Poröse Idyllen’
Vor vielen Jahren, als die Welt noch etwas übersichtlicher war als heute und eine über das Internet ufer- und grenzenlos zirkulierende Information ein in weiter zukünftiger Ferne liegendes Versprechen, veranstaltete »DIE ZEIT« ein interessantes Bildexperiment. Dabei druckte man ein und dasselbe Foto, jeweils versehen mit einer unterschiedlichen Bildunterschrift, quer durch alle Ressorts ab, ohne an irgendeiner Stelle der Zeitung auf diesen Kunstgriff hinzuweisen. Das Ergebnis war ebenso vorhersehbar wie gleichzeitig verblüffend: Im Wirtschaftsteil fungierte die Abbildung einer Frau in Arbeitskleidung vor Stahltanks in einer Fabrikhalle als visueller Transmitter für die Textbotschaft der Fusion zweier großer milchverarbeitender Betriebe. Im Ressort Politik wies dieselbe Abbildung auf höhere Lohnforderungen in der Metallindustrie hin, im Feuilleton begleitete das Bild die Performance-Aktion einer Künstlerin zum Thema Arbeit und Ausbeutung. Erstaunlich an dieser medialen Inszenierung war nicht nur die Tatsache, wie bestechend genau, quasi unverrückbar objektiv Text- und Bildinformation in allen Fällen zusammenzupassen schienen. Geradezu beunruhigend war vielmehr vor allem, wie lange es dauerte, bis einem beim Lesen der Zeitung irgendwann dämmerte, dass man das Bild, welches man gerade betrachtete, irgendwo schon einmal oder sogar mehrmals gesehen hatte. Offensichtlich in-formierte der jeweils unterschiedliche beigefügte Text das immer gleiche Foto so massiv, dass es in der Wahrnehmung des lesenden Betrachters selbst als ein jeweils anderes erschien. Ich erinnere mich noch gut, dass auch, nachdem ich das Manöver durchschaut hatte, immer noch leise Zweifel blieben, ob es sich wirklich immer um haargenau dasselbe Foto handeln könnte, wo doch der Zusammenhang jedes Mal ein völlig anderer war.
Auch und gerade aus der heutigen Situation heraus, mit ihrer exponentiell gewachsenen Bilder- und Medienflut, erscheint mir das ZEIT-Experiment immer noch signifikant. Zum einen als Zeichen der Bild-Fixiertheit unserer Gesellschaft. Zum anderen, und wesentlicher, als schlagender Beweis für die totale Manipulierbarkeit jeder ikonografischen Darstellung durch den Kontext, in den sie gestellt wird. Unterdessen hat sich die Brüchigkeit, die Fragwürdigkeit dessen, was uns Bilder als Informationen übermitteln, dramatisch erhöht. Im Prozess eines sich mit ungeheurer Geschwindigkeit vollziehenden, längst noch nicht abgeschlossenen »iconic turns« sind Bilder nicht nur grenzenlos verfügbar, sondern digital auch in einer Weise permutierbar, dass sie wesensmäßig simulativ erscheinen. Anders gesagt: Wer heute mit den Bildern unserer Welt umgeht, geht nicht mehr in erster Linie davon aus, dass sie wahr sind, sondern unterstellt ihnen von vornherein, dass sie nicht mit dem kongruent sind, was auf ihnen zu sehen ist.
Eben auf dieser Grundlage bewegt sich die künstlerische Arbeit Wolfgang Ellenrieders. Seine Malerei zieht die Konsequenz daraus, dass die Verankerung unserer Bilderwelt in der Wirklichkeit so porös geworden ist, dass ihre mögliche Wahrheit ihr vorheriges Gefälschtsein immer schon miteinschließt. Wenn Ellenrieder aus Faller-Modellbausätzen kleinstädtische Idyllen bastelt und diese dann fotografiert oder seine Mal-Themen aus Stock-Art-Katalogen oder Hardcore-Porno-CD´s bezieht, dann tut er dies aber nicht, um bei dem – inzwischen leicht obsolet erscheinenden – nochmaligen Erweis der Auflösung der Wirklichkeit in Simulacren stehen zu bleiben. Vielmehr erschafft er in seinen Fotos und Bildern eine eigene Realität: Die Wahrheit des Gefälschten. Genau deswegen sehen die fotografierten Modellhäuschen zum Teil auf eine tückisch vergiftete Weise realer und echter aus als die spießig-trostlosen Wirklichkeiten an den Rändern unserer Kleinstädte. Und deswegen erscheinen die »passepartout«-Bilder aus den Stock-Angeboten der Fotoagenturen, diese universell und immer passend einsetzbaren Bildbastarde, in ihrer malerischen Übersetzung auf einmal ebenso spezifisch und persönlich wie die vorwiegend weiblichen Gesichter der Pornodarstellerinnen. Durch einen entsprechend gewählten Ausschnitt, vor allem aber durch das gewählte Medium der Malerei gewinnen sie ein Momentum, eine Eigentümlichkeit zurück, die sie eigentlich schon längst verloren hatten. Die Kontextabhängigkeit des Bildes beweisen sie in diesem Fall in einer sozusagen umgekehrten Volte: Das Urmedium des Bildes, die Malerei, injiziert den von medialer Total-Permutierung ausgelaugten elektronischen Vor-Bildern ihren ureigenen Kontext, nämlich das Phantasma des Originals, und lädt sie so mit einer Aura paradoxer Echtheit auf.
Eine interessante Engführung dieses Argumentationszusammenhangs zeigt Ellenrieder in der 2005 entstandenen Folge von klein- und mittelformatigen Zelt-Bildern, die auf eine zunächst nur schwer erklärbare Weise zugleich idyllisch und beunruhigend wirken. Im Unterschied zu den Porno- oder Stock-Katalog-Vorgaben bedient sich der Künstler hier aber in den meisten Fällen bei Bildern von privaten Internet-Seiten. Die dort gefundenen Fotos beziehen sich in der Regel auf Urlaubs-Situationen, wobei die Zelte nicht nur den Mittelpunkt der Komposition bilden, sondern in einem fotografischen Akt der Personalisierung, als handelnde Akteure, als Protagonisten auftreten. Was Ellenrieder erkennbar an diesen Fotos fasziniert, ist die merkwürdige Uniformität, die aus diesen ursprünglich durchaus intimen Dokumenten erwächst, als sei der persönliche Blick gar nicht mehr in der Lage, etwas anderes als einen anonymen Standard zu erzeugen. Nicht nur die Zelte – in der Regel Kuppelzelte – ähneln sich, auch die Umgebung, in der sie stehen, die Farben und die Fotoperspektive erscheint eigentümlich gleichgeschaltet. Nur ab und an sieht man Personen vor den Zelten sitzen. Meistens tritt das Zelt – wie eine Metapher für die grundsätzliche Sehnsucht des Menschen nach Behausung – als alleiniger Akteur auf. Mal als Einzelzelt, gerne als Paar, und bisweilen auch als vage geordnetes Rudel von Giebeldachzelten. Die völlige Ereignislosigkeit der Szenen und die Tatsache, dass sie – außer für die jeweils fotografierenden Personen und ihr persönliches Umfeld – eigentlich überhaupt keinen Informationswert besitzen, stattet die Bilder mit einer merkwürdigen, fast surrealen Spannung aus, welche durch die wässrig, wolkig verfließende Malweise noch erhöht wird. Das zunächst durch das Internet, dann durch die malerische Aneignung gewissermaßen doppelt veröffentlichte private Dokument verliert zwar seinen intimen Charakter, gewinnt aber keineswegs eine allgemeine Bedeutung.
Während Ellenrieder bei den oben erwähnten Beispielen den austauschbaren Charakter des verwendeten Surrogat-Materials durch die Malerei wieder identifizierbar machte, hält die Malerei hier die Zelte in einem Zustand zwischen Ferne und Nähe. Anverwandlung wie Distanzierung wollen beiden gleichermaßen nicht gelingen. Rundlich in sich zurückgezogen formulieren die Zelte eine terra incognita, einen Fremdraum, der Entzogenheit und Unberührbarkeit signalisiert. Wie gigantische Alien-Eier hocken sie auf Wiesen und von Sonnenflecken durchglänzten Wäldern. Was in ihnen vorgeht und ob überhaupt etwas in ihnen vorgeht, bleibt völlig rätselhaft. Als fliegende Architekturen in einen verschwimmenden Zusammenhang gestellt, klingt in ihnen die Sehnsucht nach Lokalisierung, nach Verortung an. Weit deutlicher aber vermitteln sie das Gefühl von völliger Ortlosigkeit, das durch die Titel der Arbeiten paradoxerweise noch gesteigert wird. Ob »Hockenheim« (S. 28), »Roskilde« (S. 35), »Chiemsee« (S. 33) oder »Taubertal« (S. 39): Irgendwo befinden wir uns immer im gleichen Nirgendwo von Waldlichtungen, die sich nicht ganz entscheiden können, ob sie nun zivilisierte Kulturlandschaft oder wildwüchsige Naturlandschaft sein wollen. Die dezidierte geografische Benennung trägt nicht zur Identifizierbarkeit bei, sondern erzeugt im Gegenteil eine Uniformität, die jeden Versuch räumlicher Konkretisierung unterläuft. Wie in Ellenrieders »Raumutopien« erscheint auch der Raum in der Serie der Zeltbilder ungreifbar, virtuell, entzogen. Die vielleicht erst auf den zweiten Blick spürbare Melancholie der Zeltbilder rührt genau daher: Wie die zugrunde liegenden privaten Fotografien eine spezifische Erinnerung und einen temporären Ort des Zuhause-Seins dokumentieren wollen und die Übersetzung in das gemalte Bild nur stereotype Anonymität und ortlose Unbehaustheit zutage fördert.
Stephan Berg in
›Wolfgang Ellenrieder – parallel‹,
Kerber Verlag Bielefeld, 2006