‘Poröse Idyllen’

Vor vielen Jahren, als die Welt noch etwas übersichtlicher war als heute und eine über das Internet ufer- und grenzenlos zirkulierende Information ein in weiter zukünftiger Ferne liegendes Versprechen, veranstaltete »DIE ZEIT« ein interessantes Bildexperiment. Dabei druckte man ein und dasselbe Foto, jeweils versehen mit einer unterschiedlichen Bildunterschrift, quer durch alle Ressorts ab, ohne an irgendeiner Stelle der Zeitung auf diesen Kunstgriff hinzuweisen. Das Ergebnis war ebenso vorhersehbar wie gleichzeitig verblüffend: Im Wirtschaftsteil fungierte die Abbildung einer Frau in Arbeitskleidung vor Stahltanks in einer Fabrikhalle als visueller Transmitter für die Textbotschaft der Fusion zweier großer milchverarbeitender Betriebe. Im Ressort Politik wies dieselbe Abbildung auf höhere Lohnforderungen in der Metallindustrie hin, im Feuilleton begleitete das Bild die Performance-Aktion einer Künstlerin zum Thema Arbeit und Ausbeutung. Erstaunlich an dieser medialen Inszenierung war nicht nur die Tatsache, wie bestechend genau, quasi unverrückbar objektiv Text- und Bildinformation in allen Fällen zusammenzupassen schienen. Geradezu beunruhigend war vielmehr vor allem, wie lange es dauerte, bis einem beim Lesen der Zeitung irgendwann dämmerte, dass man das Bild, welches man gerade betrachtete, irgendwo schon einmal oder sogar mehrmals gesehen hatte. Offensichtlich in-formierte der jeweils unterschiedliche beigefügte Text das immer gleiche Foto so massiv, dass es in der Wahrnehmung des lesenden Betrachters selbst als ein jeweils anderes erschien. Ich erinnere mich noch gut, dass auch, nachdem ich das Manöver durchschaut hatte, immer noch leise Zweifel blieben, ob es sich wirklich immer um haargenau dasselbe Foto handeln könnte, wo doch der Zusammenhang jedes Mal ein völlig anderer war.

Auch und gerade aus der heutigen Situation heraus, mit ihrer exponentiell gewachsenen Bilder- und Medienflut, erscheint mir das ZEIT-Experiment immer noch signifikant. Zum einen als Zeichen der Bild-Fixiertheit unserer Gesellschaft. Zum anderen, und wesentlicher, als schlagender Beweis für die totale Manipulierbarkeit jeder ikonografischen Darstellung durch den Kontext, in den sie gestellt wird. Unterdessen hat sich die Brüchigkeit, die Fragwürdigkeit dessen, was uns Bilder als Informationen übermitteln, dramatisch erhöht. Im Prozess eines sich mit ungeheurer Geschwindigkeit vollziehenden, längst noch nicht abgeschlossenen »iconic turns« sind Bilder nicht nur grenzenlos verfügbar, sondern digital auch in einer Weise permutierbar, dass sie wesensmäßig simulativ erscheinen. Anders gesagt: Wer heute mit den Bildern unserer Welt umgeht, geht nicht mehr in erster Linie davon aus, dass sie wahr sind, sondern unterstellt ihnen von vornherein, dass sie nicht mit dem kongruent sind, was auf ihnen zu sehen ist.

Eben auf dieser Grundlage bewegt sich die künstlerische Arbeit Wolfgang Ellenrieders. Seine Malerei zieht die Konsequenz daraus, dass die Verankerung unserer Bilderwelt in der Wirklichkeit so porös geworden ist, dass ihre mögliche Wahrheit ihr vorheriges Gefälschtsein immer schon miteinschließt. Wenn Ellenrieder aus Faller-Modellbausätzen kleinstädtische Idyllen bastelt und diese dann fotografiert oder seine Mal-Themen aus Stock-Art-Katalogen oder Hardcore-Porno-CD´s bezieht, dann tut er dies aber nicht, um bei dem – inzwischen leicht obsolet erscheinenden – nochmaligen Erweis der Auflösung der Wirklichkeit in Simulacren stehen zu bleiben. Vielmehr erschafft er in seinen Fotos und Bildern eine eigene Realität: Die Wahrheit des Gefälschten. Genau deswegen sehen die fotografierten Modellhäuschen zum Teil auf eine tückisch vergiftete Weise realer und echter aus als die spießig-trostlosen Wirklichkeiten an den Rändern unserer Kleinstädte. Und deswegen erscheinen die »passepartout«-Bilder aus den Stock-Angeboten der Fotoagenturen, diese universell und immer passend einsetzbaren Bildbastarde, in ihrer malerischen Übersetzung auf einmal ebenso spezifisch und persönlich wie die vorwiegend weiblichen Gesichter der Pornodarstellerinnen. Durch einen entsprechend gewählten Ausschnitt, vor allem aber durch das gewählte Medium der Malerei gewinnen sie ein Momentum, eine Eigentümlichkeit zurück, die sie eigentlich schon längst verloren hatten. Die Kontextabhängigkeit des Bildes beweisen sie in diesem Fall in einer sozusagen umgekehrten Volte: Das Urmedium des Bildes, die Malerei, injiziert den von medialer Total-Permutierung ausgelaugten elektronischen Vor-Bildern ihren ureigenen Kontext, nämlich das Phantasma des Originals, und lädt sie so mit einer Aura paradoxer Echtheit auf.

Eine interessante Engführung dieses Argumentationszusammenhangs zeigt Ellenrieder in der 2005 entstandenen Folge von klein- und mittelformatigen Zelt-Bildern, die auf eine zunächst nur schwer erklärbare Weise zugleich idyllisch und beunruhigend wirken. Im Unterschied zu den Porno- oder Stock-Katalog-Vorgaben bedient sich der Künstler hier aber in den meisten Fällen bei Bildern von privaten Internet-Seiten. Die dort gefundenen Fotos beziehen sich in der Regel auf Urlaubs-Situationen, wobei die Zelte nicht nur den Mittelpunkt der Komposition bilden, sondern in einem fotografischen Akt der Personalisierung, als handelnde Akteure, als Protagonisten auftreten. Was Ellenrieder erkennbar an diesen Fotos fasziniert, ist die merkwürdige Uniformität, die aus diesen ursprünglich durchaus intimen Dokumenten erwächst, als sei der persönliche Blick gar nicht mehr in der Lage, etwas anderes als einen anonymen Standard zu erzeugen. Nicht nur die Zelte – in der Regel Kuppelzelte – ähneln sich, auch die Umgebung, in der sie stehen, die Farben und die Fotoperspektive erscheint eigentümlich gleichgeschaltet. Nur ab und an sieht man Personen vor den Zelten sitzen. Meistens tritt das Zelt – wie eine Metapher für die grundsätzliche Sehnsucht des Menschen nach Behausung – als alleiniger Akteur auf. Mal als Einzelzelt, gerne als Paar, und bisweilen auch als vage geordnetes Rudel von Giebeldachzelten. Die völlige Ereignislosigkeit der Szenen und die Tatsache, dass sie – außer für die jeweils fotografierenden Personen und ihr persönliches Umfeld – eigentlich überhaupt keinen Informationswert besitzen, stattet die Bilder mit einer merkwürdigen, fast surrealen Spannung aus, welche durch die wässrig, wolkig verfließende Malweise noch erhöht wird. Das zunächst durch das Internet, dann durch die malerische Aneignung gewissermaßen doppelt veröffentlichte private Dokument verliert zwar seinen intimen Charakter, gewinnt aber keineswegs eine allgemeine Bedeutung.

Während Ellenrieder bei den oben erwähnten Beispielen den austauschbaren Charakter des verwendeten Surrogat-Materials durch die Malerei wieder identifizierbar machte, hält die Malerei hier die Zelte in einem Zustand zwischen Ferne und Nähe. Anverwandlung wie Distanzierung wollen beiden gleichermaßen nicht gelingen. Rundlich in sich zurückgezogen formulieren die Zelte eine terra incognita, einen Fremdraum, der Entzogenheit und Unberührbarkeit signalisiert. Wie gigantische Alien-Eier hocken sie auf Wiesen und von Sonnenflecken durchglänzten Wäldern. Was in ihnen vorgeht und ob überhaupt etwas in ihnen vorgeht, bleibt völlig rätselhaft. Als fliegende Architekturen in einen verschwimmenden Zusammenhang gestellt, klingt in ihnen die Sehnsucht nach Lokalisierung, nach Verortung an. Weit deutlicher aber vermitteln sie das Gefühl von völliger Ortlosigkeit, das durch die Titel der Arbeiten paradoxerweise noch gesteigert wird. Ob »Hockenheim« (S. 28), »Roskilde« (S. 35), »Chiemsee« (S. 33) oder »Taubertal« (S. 39): Irgendwo befinden wir uns immer im gleichen Nirgendwo von Waldlichtungen, die sich nicht ganz entscheiden können, ob sie nun zivilisierte Kulturlandschaft oder wildwüchsige Naturlandschaft sein wollen. Die dezidierte geografische Benennung trägt nicht zur Identifizierbarkeit bei, sondern erzeugt im Gegenteil eine Uniformität, die jeden Versuch räumlicher Konkretisierung unterläuft. Wie in Ellenrieders »Raumutopien« erscheint auch der Raum in der Serie der Zeltbilder ungreifbar, virtuell, entzogen. Die vielleicht erst auf den zweiten Blick spürbare Melancholie der Zeltbilder rührt genau daher: Wie die zugrunde liegenden privaten Fotografien eine spezifische Erinnerung und einen temporären Ort des Zuhause-Seins dokumentieren wollen und die Übersetzung in das gemalte Bild nur stereotype Anonymität und ortlose Unbehaustheit zutage fördert.

  • Stephan Berg in

  • ›Wolfgang Ellenrieder – parallel‹,
    Kerber Verlag Bielefeld, 2006

‘Im Reich der Joker’

Es war im 17. Jahrhundert, als Künstler ihre Werke erstmals in größerem Umfang auf Vorrat produzierten. Statt nur Auftraggeber mit vereinbarten Gemälden oder Skulpturen zu bedienen, arbeiteten sie ohne Wissen um Art und Ausmaß der Nachfrage. Auf Märkten und Messen, aber auch in Ladengalerien stellten sie dann aus, was sie fabriziert hatten. Vor allem in den Niederlanden entstand so ein blühender Kunsthandel, nachdem dort infolge der Reformation die Kirche als bis dahin größter Auftraggeber weggefallen und eine Neuordnung des gesamten Kunstbetriebs erforderlich geworden war.

Die marktwirtschaftliche Orientierung zeigte sich im Bereich der Malerei damals in zumindest doppelter Weise. Einerseits kam es zu erstaunlichen Spezialisierungen. Hatte ein Maler zuvor alles gemalt, was ein Auftrag von ihm verlangte, war es für ihn nun effektiver, sich auf eine Gattung zu beschränken oder gar eine eigene Untergattung zu entwickeln. Wer nur Stilleben und dabei vielleicht sogar nur Fischstilleben malte, erwarb sich eine Routine und Professionalität in der Darstellung seiner Sujets, die einem Kollegen, der auch noch Porträts, Landschaften, Seestücke und Historiengemälde verfertigte, höchstens mit Hilfe ihrerseits spezialisierter Werkstatt-Mitarbeiter möglich gewesen wäre. Auch war es leichter, unverwechselbar zu werden und geradezu Markencharakter zu erwerben, wenn man zuverlässig einen einzigen Bildtypus verfolgte und im Lauf seiner Karriere die Gemälde für unzählige Wohnstuben oder Wirtshäuser, Patrizierzimmer und Schlafgemächer herstellte.

Andererseits führte die Ungewißheit darüber, wer sich für ein Bild aus welchen Gründen interessieren würde, zu dem Bestreben, möglichst vielseitig verwendbare Motive und Ikonographien, ja bedeutungsoffene Tableaus zu entwickeln. Das erhöhte die Nachfragechancen, da ein Bild dann vielen verschiedenen Menschen gefallen konnte, es aber auch für mehrere Anlässe und in unterschiedlichen Umgebungen paßte. Deshalb gab es etwa kaum Porträts, wären diese doch zu spezifisch gewesen. Dafür besaß die niederländische Malerei eine Vorliebe für Stilleben oder Seestücke: Solche Sujets bewährten sich als hinreichend unverbindlich, damit potentiell viele Interessenten sie als Erfüllung ihrer Bildbedürfnisse betrachten konnten.

In der Gegenwart werden allenthalben – und bei weitem nicht nur in der Kunst – Bilder auf Vorrat produziert. Bildagenturen haben für diese Bilder sogar einen eigenen Namen: Sie sprechen von Stock-, also von Vorrats-Ware. Dabei handelt es sich um Graphiken, aber vor allem um Fotografien, die an Redaktionen oder Werbeagenturen verkauft werden, welche schnell Bildmaterial brauchen oder den Aufwand scheuen, eigene Shootings zu veranstalten. Wie die niederländischen Maler haben die Agenturen Strategien entwickelt, Fotos so unbestimmt anzulegen, dass sie für verschiedene Situationen passen. Bei ihnen kommt aber noch hinzu, daß sie ein Foto möglichst oft vertreiben wollen, um eine hohe Rendite damit zu erzielen. »Stock photography« ist somit eine Spezies von Bildern, die jede eindeutige Festlegung vermeiden. Das gelingt, indem die Sujets etwa so gewählt sind, dass die Fotos sich weder datieren lassen noch einem bestimmten Ort zuzuordnen sind; Hintergründe sind gerne ausgeblendet, gelegentlich sogar Figuren an den Bildrändern abgeschnitten: So bleibt offen, was sie gerade tun. Oft wird auch mit Unschärfen gearbeitet. Sie dienen ebenfalls dazu, ein Foto indefinit zu machen: Ein Handy-Modell wird verwischt, damit das Foto nicht nach der nächsten Designwelle bereits veraltet ist; Gesichter und ethnische Zugehörigkeiten lässt man verschwimmen, um dasselbe Foto in mehreren Kontinenten, am besten weltweit zu verkaufen; eine Szene erscheint überbelichtet, damit nicht genau erkennbar ist, in welcher Stadt die Wolkenkratzer im Hintergrund stehen.

Die gesamte Ästhetik folgt also einer Logik der Marktwirtschaft und entspringt kapitalistischem Gewinninteresse. Dazu gehört auch das Interesse der Stock-Agenturen an Bildern, die möglichst schnell wieder vergessen werden. Dann kann man sie nämlich erneut absetzen, ohne dass sich jemand an den Wiederholungen stört. Das aber bedeutet einen bemerkenswerten Bruch mit traditionellen Bildfunktionen (die auch in der niederländischen Malerei nicht außer Kraft gesetzt waren): Immerhin galten Bilder über Jahrhunderte hinweg als Gedächtnisstütze und »Erinnerungs-Motor« (Edmund Husserl); ihnen traute man zu, besonders einprägsam zu sein – und darum galt es, diese ihre Fähigkeit noch eigens zu stärken. Vor der Marktwirtschaft gab es höchstens in der Mystik den Wunsch eines Vergessens von Bildern, dann jedoch nicht aus Gründen der Gewinnmaximierung, sondern um Gott unverstellt – nicht abgelenkt von Medien – erfahren zu können.

Das ideale Stock-Foto paßt also überall und wird sogleich wieder vergessen. Dies ist ein ontologisch ungewöhnlicher Zustand, nämlich eine Mischung aus Flexibilität und Flüchtigkeit. Oder, anders formuliert: Ein solches Foto ist omnikompatibel wie ein Joker, dafür aber selbst substanz- und folgenlos. Es ist alles und nichts zugleich. Dass sich Künstler für das Phänomen der Stock-Fotografie interessieren, braucht daher nicht zu verwundern: Sie muss die Umkehrung des traditionellen Bildsinns – der Verzicht auf klare Bedeutung und Prägnanz – provozieren, aber auch zumindest als Gedankenspiel, vielleicht sogar als Abwechslung zu herkömmlichen Bildprogrammen reizen.

Wolfgang Ellenrieder nahm für mehrere seiner Bildserien Stock-Fotos als Grundlage. Er übertrug sie zwar nicht exakt, veränderte sie aber oft auch nur geringfügig, indem er Farben austauschte, Bildausschnitte leicht verschob oder auf ein paar Details verzichtete. Solche Unterschiede gegenüber den Vorbild-Fotos sind ein Zeichen dafür, dass in der Malerei völlige Freiheit hinsichtlich der Auswahl und Gestaltung der Motive herrscht. Darin zeigen sich aber auch Techniken der Aneignung fremder Bilder, was die Frage, ob mit der Adaption von Stock-Fotos Urheberrechte verletzt werden, noch komplizierter, ja völlig unentscheidbar macht. Ellenrieders Gemälde lassen sich daher auch als ein künstlerisch-kritischer Kommentar zu den Debatten über eine Verschärfung des Begriffs geistigen Eigentums interpretieren.

Die Faktur der Gemälde lässt im übrigen keinen Zweifel, dass es sich um gemalte Bilder und damit, im Gegensatz zu den reproduzierten Fotos, um Unikate handelt: An einigen Stellen sieht man eine Bleistiftvorzeichnung, an anderen gibt es die typischen Verläufe von Aquarellfarben oder etwas dickere Striche eines von Pigment und Bindemitteln gesättigten Pinsels. Aber auch sonst entsteht beim Betrachter zuerst der Eindruck ganz individuell gefertigter Bilder. Die Personen, die auf ihnen – oft natürlich nur unscharf oder angeschnitten – zu sehen sind, tragen fast immer Namen: »Sven & Anja« (S. 67), »Mark« (S. 63), »Eva im Garten« (S. 58) lauten die Bildtitel. Da einige Namen bei verschiedenen Bildern wiederkehren, vermutet man in den Personen Freunde oder Verwandte des Malers, hält die Bilder also für Dokumente seines privaten Kosmos, gar für Porträts. Tatsächlich personalisiert Ellenrieder die im Katalog oder auf der Website titellosen, nur mit einer Bestellnummer versehenen Stock-Fotos und macht aus ihnen Werke einer Gattung, die es bei Vorrats-Bildern (wie ja schon in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts) eigentlich gar nicht gibt. Dadurch beweist sich aber nur einmal mehr die Anpassungsfähigkeit der Stock-Fotos: Auf ihnen ist alles so anonym, dass es jeden Namen widerstandslos annehmen kann.

Aber nicht nur die Joker-Qualität der Bildvorlagen, sondern auch ihre Flüchtigkeit wirkt sich auf Ellenrieders Gemälde aus. So fällt es dem Betrachter schwer, sich im Nachhinein an die vermeintlichen Porträts zu erinnern, zumal der Maler die fotografische Unschärfe – und damit die Unverbindlichkeit – häufig noch weiter gesteigert hat. Um so besser bleibt dafür die Malweise – das Farb- und Formklima – im Gedächtnis. Hierbei verstärkt sich ein Effekt, der ähnlich bereits bei Malern der Klassischen Moderne zu bemerken ist, die oft mehr Konzentration auf das Wie als auf das Was legten: Scheinen die Motive – ein Stilleben, ein Stück Landschaft, ein Interieur – dann nur Vorwand zu sein, sind die Gemälde wegen der Farbkontraste oder einer besonderen Pinselführung dennoch unverwechselbar und damit zumindest insgesamt einprägsam.

Damals erhoben die meisten Künstler jedoch auch noch Anspruch darauf, dass jedes Gemälde als Meisterwerk wahrgenommen wird. Es ging ihnen um das einzelne Bild, während eine jüngere Generation von Künstlern, zu denen Wolfgang Ellenrieder gehört, Bilder von vornherein im Plural denkt. Sie beschäftigt, was in einer Serie geschieht, wie Bilder interagieren, wieso eine Wand mit Bildern mehr oder anderes ist als die Summe der Einzelbilder. Um aber vom Bild im Singular loszukommen, muss ganz auf das Pathos vom Meisterwerk, von Dauer und Prägnanz verzichtet werden. Vielmehr braucht es gerade Bilder, die als einzelne vergessen werden können. Stock-Fotos sind daher eine geschickt gewählte Grundlage. Ihre Anschlussfähigkeit prädestiniert sie ohnehin dazu, in größere Zusammenhänge eingebracht zu werden, wo sie dann jeweils andere Bedeutungen annehmen können. Dann wird ihre Joker-Qualität aber nicht nur gut genutzt, sondern überhaupt erst voll bemerkbar.

Dank eines Malers wie Wolfgang Ellenrieder, der Stock-Fotos vergrößert und im Plural kombiniert, lässt sich also der Charakter dieser für die aktuelle Welt so typischen Bilder besser begreifen. Ihre Indeterminiertheit ist, sind sie wandfüllend gemalt, viel stärker – körperlicher – zu spüren, als wenn man sie in einem Magazin klein und in Hochglanz reproduziert vorfindet. Dort gehen sie zudem als Illustration eines Texts in einem Zusammenhang auf und werden oft genug nur als visueller Appetizer, nicht aber mit Anspruch auf Eigenwert eingesetzt. Sind sie dann nur Medien, die einen Kontakt zwischen Text und Rezipient vermitteln, so ist ihr flexibel-flüchtiges Wesen bei Wolfgang Ellenrieder eigens Thema; ihre ontologische Besonderheit wird zum gemeinsamen Sujet dieser Bilder im Plural. Das Alles-und-Nichts ist dabei als Poesie der Leere, mal eher unheimlich als Verschwinden von Bedeutung, dann wieder geheimnisvoll als Verheißung von noch viel mehr Bedeutung zu erfahren. Und man lernt: Im Reich der Joker regiert der Potentialis. Es gibt keine Programme, sondern Optionen.

  • Wolfgang Ullrich in

  • ›Wolfgang Ellenrieder – parallel‹,
    Kerber Verlag Bielefeld, 2006

‘James Turell an der Tankstelle’

Mit der Ausbreitung der Cyberspace, der am Computer geplanten Räume, hat sich auch Architektur und Stadtplanung verändert. Martin Pawley, Herausgeber der Zeitschrift World Architecture, sieht uns an der Schwelle zum digitalen Urbanismus, der das ausufernde Wachsen der Metropolen weiter radikalisiert und die Vorstellung einer Stadt, mitsamt ihrer Funktion der Zentralität, hinter sich lässt. In seinem Beitrag »Die Auflösung der Städte« schreibt er: »Wir leben in einer Zeit der doppelten Existenz von ›Architekturkörpern‹ und ›Informationskörpern‹, von geschätzten, aber besiegten, aufgegebenen Städten und von neuen, unwillkommenen, aber triumphierenden Nicht-Städten«. Ganz analog beschreibt der japanische Star-Architekt Toyo Ito ein Nebeneinander von zwei Wirklichkeitsformen in der Gegenwart. In Japan sieht er eine Gesellschaft, die »gänzlich von Informationen und Kommunikationssystemen durchdrungen ist. Eine Gesellschaft, in der jedes Individuum zwei Körper besitzt: einen ›wirklichen‹ Körper, der in seiner materiellen Anwesenheit besteht, und einen ›fiktiven’ Körper, der durch die an ihn gerichtete oder von ihm empfangene Information gestaltet wird.«

Es ist dieser Dualismus aus manifester, überprüfbarer Wirklichkeit und einer virtuellen Körperlichkeit, die auch die Architekturbilder von Wolfgang Ellenrieder kennzeichnen. Seine Bilder zeigen widersprüchliche Welten, die aus Realem und Fiktiven gleichermaßen bestehen. Ausschnitte von Fassaden, Schaufenstern, Dachlandschaften, Durchgängen und Passagen umschreiben urbane Strukturen. Weder Auslagen noch Straßenschilder verraten jedoch etwas über die Geschichte oder die Geografie der skizzierten Orte. Es sind erkennbare Architekturen und zugleich seltsam entrückte Gedankenwelten. Das dazwischen gesetzte Grün — monumental und dekorativ in den Vordergrund gerückte Blüten oder Blätter — wirkt dabei so artifiziell wie die Architektur selbst. Atmosphärisch gemalte Himmelssegmente verweisen nicht auf Wind und Wetter oder die Magie des Kosmos. Die Natur erscheint vielmehr von rechteckigen Lichtschächten umgrenzt, die in ihrem Minimalismus an die Lichtinstallationen von James Turell erinnern. Und doch zitiert Wolfgang Ellenrieder in den Bildern eine handfeste Realität, nämlich die Realität der bis heute prägenden 70er Jahre Architektur in Deutschland. Architektonische Details — wie aufgebockte Glasvitrinen, betongefasste Blumenkästen, rautenförmige Pflasterungen, allesamt Klassiker der modernen Stadtgestaltung — verweisen auf die Ästhetik der deutschen Fußgängerzonen. Die in den Bildern so dominant hervortretenden Schaufensterwelten, überdachten Passagen und Tankstellen-artigen Vordächer spiegeln die die großen urbanistischen Träume der 70er Jahre, die damalige Sehnsucht nach modernen Einkaufswelten aller Art.

Diese Architekturen werden in den Bildern von Wolfgang Ellenrieder jedoch seltsam abstrakt, ohne Verweise auf ein zeitgenössisches Leben gezeigt. Die Gebilde erscheinen ahistorisch, menschenleer und so pur wie auf dem Reißbrett. Es sind vereinfachte paste-and-copy-Welten, deren Umrisse oft zeichnerisch hervorgehoben sind, um die Scheinhaftigkeit dieser Wirklichkeitswelten nochmals zu betonen. Der malerische Stil unterstreicht die Widersprüchlichkeit dieser Bilder. Es gibt auch hier einen ›wirklichen‹ und einen ›fiktiven Körper‹, von dem Toyo Ito sprach. Denn die Farbgestaltungen folgen einerseits genau den architektonischen Linien und Perspektiven. Viele der Rechteckflächen sind mit grauen Pastelltönen, mattem Violett oder schmuddeligem Gelb ausgefüllt und rufen damit erneut die Tristesse der 70er Jahre Architektur wach, insbesondere ihren heutigen Zustand: den verwaschenen Beton, die dunklen, vermosten Bodenplatten, die abgeblätterten Metallbleche. Anderseits hat der Künstler der Malerei Freiräume eingeräumt, die dem Realismusansatz seiner Bilder voll zuwiderlaufen. Weite Bereiche der Bilder weisen grell-expressiv Farbstrukturen auf, erscheinen mal fleckig, mal lasierend, mal wie mit der Sprühflasche bearbeitet. Ein nervöses, flimmerndes Orange trifft unvermittelt auf melancholisches Grauviolett, leuchtendes Hellblau steht neben einem blassen Chirurgengrün. Die zum Teil graffiti-artige Grobheit der Linien schafft markante Maßstabswechsel. Es entstehen Strukturen, die jenseits der skizzierten Räume Verbindungen schaffen und eigene Stimmungen erzeugen. Ein Bild wie ›Im öffentlichen Raum‹ erscheint als lodernder Flächenbrand — durchzuckt, auch metaphorisch, von einem orange funkelnden Elektrokabel im Großformat. Virtuose Farbwirbel und Überlagerungen dominieren die ›Inventur‹, so dass man diesen Bildtitel eher auf den Bestand der Farben als auf die Architektur beziehen möchte. Vor allem die Dynamik und die Vielfalt des Malerischen widersprechen der Eintönigkeit der skizzierten Bauten. Fast scheint es, dass die Architekturen nur den Vorwand lieferten für eine ekstatisch aufgeladene Malerei, die allerdings in ihrer Grellheit und Brüchigkeit wiederum sehr urbane Züge trägt.

Mit dieser permanenten Verquickung von ›fiktiv‹ und ›real‹, beschreibend und imaginär unterscheiden sich die Wolfgang Ellenrieders Architekturbilder auch von früheren Serien seiner Ausstellungen ›Super Bunt‹ oder ›Surrogate‹, deren Motiv durchwegs fiktiv oder simuliert waren. Viel eher lässt sich bei der engen Vernetzung von künstlich und real an die Collagen von Amelie von Wulffen denken. Anders als Wolfgang Ellenrieder geht die Künstlerin von realen Fotofundstücken aus, die durch Bleistift, Buntstift und Acryl zu panorama-artigen Montagewelten erweitert werden. Ecken eines häuslichen bürgerlichen Umfelds, mit seinen Stehlampen, Teppichen, repräsentativ gerahmten Ölbildern und gediegenen Modernismen etwa, stehen in den Collagen unvermittelt neben Außenansichten und Naturmotiven. Wie Manfred Hermes geschrieben hat, treffen bei Amelie von Wullfen »verschiedene soziale Sphären, unterschiedliche Zonen von Öffentlichkeit, aber diverse kunstgeschichtliche und autobiographische Referenzen aufeinander.« Was beide Künstler — von Wulffen und Ellenrieder — damit verbindet, ist das Prinzip der Architektur-Montage, die in klassisch post-moderner Manier jeweils von großer subjektiver Distanz gekennzeichnet ist. Beide Künstler lassen keine Zuneigung oder Kritik erkennen — nur Ambivalenzen: Die melancholische Tristesse der 70er Jahre-Architektur wird bei Wolfgang Ellenrieder konterkariert durch eine glühende Vitalität an Farben und Strukturen. Bei Amelie von Wulffen übersteigern die zeichnerischen Erweiterungen die im Foto festgehaltenen Interieurs. Während jedoch bei Amelie von Wulffen dadurch neue Panoramen und Räume entstehen — und seien sie noch so bizarr und phantastisch — hat Wolfgang Ellenrieder den illusionistischen Gesamtraum gänzlich aufgegeben. Die Bauteile, Segmente und Perspektiven seiner Bilder stehen so separat nebeneinander wie Masken auf der Bildschirmoberfläche eines Computers. Durch diese Masken kann man wie durch Fenster in die Tiefe blicken. Die Verzahnung der Fenster auf einer Art malerischen Benutzeroberfläche offenbart zugleich die Konstruiertheit aller Räume. Die Bilder zeigen die Wirkung des Cyberspace und der ihr zugrunde liegenden Zeichensysteme. Gerade darin liegt die Aktualität dieser Malerei, wie Knut Ebeling anlässlich der Ausstellung ›Painting Pictures‹ hervorgehoben hat: »Malerei ist heute Malerei zwischen den Medien: Sie bezieht ihrer Energie aus einer verschanzten Stellung zwischen anderen Medien. Während das Subjekt ad acta gelegt ist, ist sie eifrig damit beschäftigt, neue Räume und künstliche Welten herzustellen. Als Agentin zwischen Zeichensystemen bedient sie sich unterschiedlicher Codierungen. Sie ist von der Last der Inhalte befreit und beschäftigt sich fortan mit den Überträgen von einer Codierung in eine andere.«

  • Joachim Jäger in

  • ›Wolfgang Ellenrieder – parallel‹,
    Kerber Verlag Bielefeld, 2006