‘Das katastrophische Bild’
Von Anfang an gibt es dieses Moment von Instabilität und Ungewissheit in den Bildern von Wolfgang Ellenrieder. Das gilt bereits für die wässrig-vegetabilen Bildformationen, die sich in den späten 90er Jahren schwellend und schlaufenbildend über den Bildplan ausbreiten. Man meint, Pflanzen und Organismen, Samenkapseln und Augäpfel zu erkennen, und wird doch in Wirklichkeit mit einem Bildorganismus eigener Ordnung konfrontiert, einem Bastard aus scheinbarem Illusionismus und dessen sarkastisch lächelnder Widerlegung. Verschwimmend und unscharf, dann wieder mit plastischer Wucht und konturierter Präsenz, und immer in einer saftigen, die Retina geradezu penetrierenden Farbigkeit schreibt Ellenrieder der Malerei eine gleichzeitig lustvolle und zugleich saugende, unheimliche Doppelbödigkeit ein. Sind dies Bilder aus der Makro- oder der Mikrowelt? Derivate aus der sichtbaren Welt oder Tiefenbohrungen auf der Ebene zellulärer Strukturen? In jedem Fall Bilder, deren Schärfe genau in ihrer kalkulierten Unschärfe besteht, in dem Beharren darauf, sowohl sich selbst, als auch das, worauf sie sich beziehen, grundsätzlich in Frage zu stellen. Malerei wie eine eingeseifte Oberfläche: Glänzend, schillernd, verführerisch, aber eben auch enorm rutschig. Kein sicherer Grund nirgends. Zumal die in dieser Werkserie verwendete Mal-Mischung aus stark verdünnter Acryldispersion und selbst hergestellter Wasserfarbe, verbunden mit Farb- und Formvolumina, die mit der Spraypistole erzeugt werden, die Malerei in ein eigentümliches Doppellicht aus peinture und effektsicherem Oberflächenglitter taucht: Wie eine Kreuzung aus Rummelplatz-Buntheit und seriöser Malereirecherche.
Die Frage nach dem Wirklichen und dem Fiktiven, dem Talmiglanz purer Virtualität und der Suche nach einer möglichen unhintergehbaren Faktizität hat dieses Werk immer bewegt. Dabei geht es zentral um die Relation des gemalten Bildes zu den digitalen Bilderzeugungsmedien und die durch die elektronischen Medien verschärfte Zersetzung des Wirklichen. Der durch das digitale Bild beschleunigte iconic turn hat ja schließlich nicht nur dafür gesorgt, dass die Simulation, anders als das frühere Modell der Illusion, nicht mehr in Bezug auf ihren Wirklichkeitsgehalt verifiziert oder falsifiziert werden kann. Vielmehr ist die Wirklichkeit selbst durch diese simulativen Strategien so porös geworden, dass sie selbst zunehmend als defizitär gegenüber ihrem Surrogat empfunden wird. Es ist insofern kein Zufall, dass Wolfgang Ellenrieders malerisches Werk selbst eine gewisse durchscheinende Brüchigkeit aufweist, die strukturell auf den fragilen, unsicheren Status des Bildes, der Realität und der zwischen ihnen bestehenden Verknüpfungen verweist.
Allerdings hütet sich der Maler vor einseitiger Parteinahme. Aufklärerisches Pathos ist seine Sache eben so wenig wie die larmoyante Klage über die Virtualisierung unserer Wirklichkeit. Deren dünnes Eis ist vielmehr der perfekte Untergrund für die Wahrheit seiner malerischen Investigationen, die in schöner dialektischer Engführung vor allem im Spiel mit den Methoden der Fälschung besteht. Natürlich grüßen da die alten Gespenster der Baudrillardschen Simulacren? noch von Ferne. Aber eben ohne jeden ideologischen oder sendungsbewussten Überbau. Ellenrieder illustriert keinen Theoriebefund, sondern reagiert mit seiner Malerei ebenso neugierig wie direkt auf die ubiquitäre Bilderflut, die sich vor unsere Wirklichkeit geschoben hat und dabei diese ebenso perforiert, wie sie den eigenen Status in Frage stellt. Auch deswegen schöpft der Künstler seine malerischen Anregungen unter anderem aus medialen Bildquellen, in denen nicht die faktische Realität, sondern ihre Inszenierung als Konstruktion im Vordergrund steht. Das können Fotos sein, die Ellenrieder von selbst gebauten Faller-Modellbausätzen macht, Porträtausschnitte aus Hardcore-Pornos oder Material aus so genannten Stock-Art-Katalogen. Stock-Art meint dabei eine Art von Bildproduktion auf Vorrat, aus denen Bildagenturen den Hunger der Redaktionen nach Bebilderungen der unterschiedlichsten Themen befriedigen. Das Besondere dieser Archive, in denen Graphiken, vor allem aber Fotos gesammelt werden, besteht paradoxer Weise darin, dass die Verwendbarkeit des Materials mit seiner Unspezifik steigt.
Je universaler die Bilder einsetzbar sind, je weniger sie auf einen konkreten Ort oder einen bestimmten Zeitpunkt verweisen, umso attraktiver sind sie für die Redaktionen wie auch für die Agenturen, nicht zuletzt, weil sie damit ihre Rendite entsprechend steigern können. Wesentlich für das Funktionieren dieser Bilder ist eine ikonische Kodierung, welche die Aspekte der Besonderheit, Einmaligkeit und Differenziertheit ausklammert. Zur Erzeugung dieser Unbestimmtheit verwenden die Bildmacher bevorzugt die Strategie der Unschärfe. Hintergründe erscheinen diffus, überbelichtet oder ausgeblendet, Gesichter verschwimmen soweit, dass man weder die konkrete Person, noch ihre etwaige ethnische Zugehörigkeit erkennen kann. Die gesamte Konstruktion dieser Bildwelten zielt auf eine präzise durchkalkulierte Unpräzisierbarkeit. Wichtig ist, dass diese Bilder mit den verschiedensten Texten in-formiert werden können, ohne einerseits ihre visuelle Überzeugungskraft zu verlieren und ohne sich andererseits so weit in den Vordergrund zu drängen, dass sie als Bild erinnerbar bleiben. Ihre Funktion ist die eines optischen Hintergrundrauschens, das gleichwohl den Wahrheitscharakter des Textes unterstreichen soll. Damit werden sie zur Matrix eines bildersüchtigen Begehrens, das nicht mehr allein davon ausgeht, das »jedes Bild eine Geschichte erzählt«, sondern, dass in jedem Bild im Grunde alle nur denkbaren Geschichten aufgehoben sein könnten. Wobei der Doppelsinn des Wortes ›aufgehoben‹ hier durchaus bewusst verwendet wird. Schließlich ist die Vorstellung eines Bildes, in dem alles enthalten sein könnte, gleichbedeutend mit der schlussendlichen Implosion des Bildes, und zwar entweder durch totale Über-Informierung oder durch völlige Un-Informiertheit. Ellenrieder gibt diesen merkwürdigen frei flottierenden Bildbastarden, die sich momenthaft an bestimmt Inhalte anschmiegen, um kurz darauf schon andere Zusammenhänge zu illustrieren, eine fragile Identität. Seine mit Namen versehenen, verwischten und unscharfen Porträtbilder individualisieren das eigentlich Generische und Anonyme der Stock-Fotos bis zu dem Punkt, an dem das Bild zu seiner eigenen Kipp-Figur wird: zur Behauptung einer spezifischen Identität, die ihre eigene Flüchtigkeit und Bodenlosigkeit gleich mit inszeniert.
Diese Mischung aus vordergründiger Stabilität und Brüchigkeit kennzeichnet auch die architekturbezogenen Arbeiten Ellenrieders, mit denen sich der Künstler seit 2004 beschäftigt.Seine Ausschnitte von Fassaden, Passagen und Schaufenstern, seine Blicke auf Tankstellen und öffentliche Räume zeigen eine urbanistische Welt ohne Halt. Die tektonischen Elemente, aus denen sie gebildet ist, rahmen bildhafte Oberflächen, die wie universal aufladbare Screens erscheinen. Die realen Körper der Architektur und die virtuellen Körper der Informations- und Kommunikationssyteme, die unsere Städte durchziehen, durchdringen sich in diesen wässrigen Architekturhalluzinationen und hybridisieren sich zu geisterhaften Phantom-Körpern. Diese Ort- und Anbindungslosigkeit der gemalten Architekturen Ellenrieders führt in ihr paradoxes Zentrum: Als Architekturkörper signalisieren sie eine Stabilität, die ihnen in der malerischen Durchführung wieder komplett entzogen wird. Statt Raumutopien sind sie in Wirklichkeit eher Raumdistopien.
Deutlich wird dies auch auf einer 2005 entstandenen Serie von Bildern, die, auf der Basis von privaten Internetfotos, Zelte in verschiedenen landschaftlichen Kontexten zeigen. In ihnen prallt die Sehnsucht nach Behausung und Geborgenheit auf eine malerische Inszenierung, deren verfließender Duktus eher ortlose Melancholie und eine fast surreal anmutende stereotype Anonymität erzeugt. Ganz egal ob die Titel ›Hockenheim‹, Chiemsee oder ›Roskilde‹ lauten: In ihrem Inneren befördern diese Arbeiten nicht geografische Sicherheit, sondern die Trostlosigkeit eines waldigen Nirgendwo, das unentschieden zwischen parkartiger Kultiviertheit und wildwüchsiger Scheinnatur pendelt.
In den neuesten Bildgruppen, die seit 2008 entstehen, tritt an die Stelle einer latenten, gerade noch in der Schwebe gehaltenen Instabilität von Welt und Bild die manifeste Katastrophe. ›Chaostage‹ (2009), der Titel eines im Wortsinn explosiven 35mm-Films von Ellenrieder und zugleich Titel seiner Ausstellung im Kunstverein Ulm im Jahr 2009 könnte als Überbegriff über all diesen feuerflackernden, explosionsgeschüttelten, berstenden Bildern stehen, deren Hitze und Dringlichkeit eine neue Dimension im Schaffen des Malers anzeigt. Wie schon in den vorherigen Werkblöcken operiert Ellenrieder maltechnisch mit einer raffinierten Mischung aus High- und Low. Dabei verbinden sich Ölfarbe, Pigment, Bindemittel, Pinsel, Schwamm und Sprühpistole zu einem schillernden Amalgam illusionistischer und desillusionierender Oberflächentiefe. Rauch und Feuer, die von Reifenstapeln und umgekippten Autos aufsteigen, sind so lustvoll rußfett und rotglühend knisternd entwickelt, als wollten sie sich mit der Realität messen. Gleichzeitig aber beharren sie ebenso energisch auf ihrem Inszenierungscharakter. Dies umso mehr, als auch ein Teil dieser Feuerbilder aus den Tiefen der Stock-Art-Kataloge stammen, diesmal als visuelle Orchestrierung aller denkbaren Formen gewalttätiger Demonstrationen, Unruhen, Katastrophen oder militärischer Auseinandersetzungen. So wird ein brennender Reifenstapel zur Blaupause, zum Erkennungszeichen für jeden möglichen Konfliktherd geworden. Unabhängig davon, wo und aus welchem Anlass gezündelt wird. Und ins Allgemeine gewendet liest er sich als Flammenspur einer Revolte der immer größer und dabei immer gesichtsloser werdenden Ränder der Gesellschaft gegen eine selbst immer mehr ausfransende und orientierungsloser werdende gesellschaftliche Mitte. Also, wenn man so will, als Zeichen eines Kampfs des Systems gegen sich selbst.
Nicht nur die Medialisierung der Welt, ihre permanent zunehmende Kino-Haftigkeit bewegt diese Bilder, sondern auch ein waches Bewusstsein für die explosive Zentrifugalität unserer Gesellschaftssysteme. Zugleich und vielleicht am wesentlichsten sind sie allerdings Ausdruck einer Zeitlichkeit, die alles auf einen schockhaften Moment krisenhafter Plötzlichkeit verdichtet. Die schon im futuristischen Manifest (1909) geäußerte Überzeugung, Raum und Zeit seien gestern gestorben und würden nun zu einer einzigen, mit rasender Geschwindigkeit auf uns zustürzenden Totalität implodieren, die in Virilios ›Dromologie‹ ihre Fortsetzung gefunden hat, kann in gewisser Weise auch auf Ellenrieders Katastrophenbilder angewendet werden. Diese Malerei zeigt Bild und Welt als Ort einer in ewiger Momenthaftigkeit eingefrorenen katastrophischen Dauerekstase, als permanent ereignishafter Ausnahmezustand, der abgeschnitten ist von jedem Davor und Danach. Darin spiegelt sich auch eine postmoderne Zeitkonzeption: Die Überzeugung vom Ende einer sich sukzessiv und linear entwickelnden Geschichte, die sich in Simultaneität und Gleich-Gültigkeit aufgelöst hat.
Dass ausgerechnet das langsame Medium der Malerei nach Ellenrieders Überzeugung in der Lage sein soll, diese Struktur der Gleichzeitigkeit adäquat umzusetzen, mag auf den ersten Blick überraschen. Tatsächlich aber steht der Künstler damit durchaus in einer langen Traditionslinie, die sich bis hin zu Gotthold Ephraim Lessing zurückverfolgen lässt. In »Laokoon oder Über die Grenzen von Malerei und Poesie« (1766) kommt Lessing zu dem Ergebnis, dass im Gegensatz zur Dichtung, die sich eher für das Sukzessive eigne, die Malerei das primäre Medium für die Darstellung des Moments im Raum sei, und somit für das Simultane. Auch wenn bereits Herder dies bezweifelt und den eigentlichen Gegensatz zwischen Malerei und Musik vermutet, die er als die wahre Zeit-Kunst ansieht, bleibt es für die Malerei dennoch eine fruchtbare Herausforderung, ihren notwendigerweise sukzessiven Charakter soweit zu verdichten, dass das Bild eine - im Wortsinn - Augenblicklichkeit gewinnt, in der das zeitliche Nacheinander seiner Herstellung aufgelöst ist.
In diesem Sinn sind die oft bühnenartig wirkenden Bildkonstruktionen, auf denen Ellenrieder in unterschiedlichen Entstehungsprozessen seine Szenen arrangiert, als Motoren für eine zusätzliche zeitliche Aufladung des Bildes zu verstehen. Das malerische Nacheinander erzeugt schlussendlich ein komplexes räumliches und zeitliches Ineinander simultaner Verschaltungen. Die Einheit des Bildes besteht sozusagen aus einer Vielheit gleichzeitig auf der Leinwand sichtbarer disparater Momente und Situationen. Diese Bildbühnen simulieren in gewisser Weise die Realität eines Geschehens auf einer Theaterbühne: Denn der soziale Raum der Gegenwärtigkeit, den ein Theaterabend herstellt, beruht ja wesentlich auf dem jeden Abend aufs Neue eingelösten Versprechen eines Hier und Jetzt, einer heißen Gleichzeitigkeit zwischen Betrachter und Theatergeschehen. In diesen Raum der Gegenwärtigkeit zielen auch die Bilder Ellenrieders. Die lodernde Hitze und die katastrophischen Explosionen und Zusammenbrüche ziehen uns in ihren Zusammenhang hinein, lassen coole Distanz nicht zu. Nur, um uns dann, und das ist ihr dialektischer Dreh- und Angelpunkt, in einer ironischen Volte ihre eigene Inszeniertheit, ihren eigenen Fälschungscharakter vorzuhalten. Je näher uns diese Bilder kommen, umso mehr erkennen wir in ihnen ihre eigentliche Ferne. Und ihre Ferne wiederum ist die Bedingung dafür, dass sie uns so nahe rücken können.
Stephan Berg in
›Wolfgang Ellenrieder – Tatort‹,
Prestel Verlag München, 2011