‘Ceci est une pipe.’
In seinen Überlegungen zur Ontologie des hässlichen Objekts aus den 1990er Jahren, nutzte der Architekturtheoretiker Mark Cousins ein zweistufiges Modell um einen Gegenstand zu begreifen. »Wenn wir davon ausgehen, dass ein Objekt in zweifacher Form existiert – erstens als Repräsentation seiner selbst und zweitens als seine Existenz – dann muss das Äußere eines Dinges (Repräsentation) sein Inneres umfassen (Existenz).« Diese Splittung eines Objekts in sein Wesen einerseits und seine Erscheinung andererseits, ist ein Modell, dem wir in der Erkenntnisphilosophie wie Wahrnehmungstheorie wiederholt begegnen. Wird eine solche Unterscheidung außer Acht gelassen, so liegt dies zuweilen nur an der Überzeugung, dass man auf die Existenz eines Objekts ohnehin ausschließlich über seine Erscheinung schließen könne und entsprechend beide Ebenen aus Sicht des Wahrnehmenden in eins fallen.
Meist befinden sich Wesen und Erscheinung eines Gegenstands in Deckungsgleichheit. So lässt letztere auf ersteres schließen und gibt uns Auskunft darüber, womit wir es zu tun haben. Wo dies nicht der Fall ist, verleitet uns die Erscheinung eines Objekts dazu, auf ein Wesen zu schließen, das ihm in Wahrheit nicht entspricht. Eine solche Divergenz ist die Grundlage des Unechten, der Fälschung, des Fake. Ein Fake legt es also gerade nicht darauf an, sein Wesen in seiner Erscheinung erkennen zu lassen. Vielmehr zeichnet es sich dadurch aus, dass es uns glauben macht, es sei etwas anderes. Dieser Umstand ist jedoch nicht die einzige Voraussetzung für das Funktionieren eines Fakes. Denn darüber hinaus darf diese Inkongruenz zwischen Existenz und Repräsentation nicht wahrgenommen werden. Die Erscheinungsweise muss als vermeindlich ›wahrer‹ Ausdruck eines Objekts anderer Art wirken.
Blicken wir auf die Entwicklung der abendländischen Malerei und Bildhauerei, so ließe sich ein Kunstwerk als Fake qua Definition begreifen. Die Künstler standen im festen Dienst der Repräsentation und wurden über Jahrhunderte hinweg von dem Drang vorangetrieben, ihre darstellende Kraft zu optimieren. Was sich veränderte, war nicht so sehr dieses Grundverständnis, als vielmehr die Frage, was die Kunst zu repräsentieren habe. Egal ob eine gegenwärtige oder vergangene Welt, eine uns zugängliche oder religiös und mythologisch entrückte, das Augenmerk der Bildenden Kunst galt der Darstellung einer wie auch immer gearteten Dingwelt und ihr Ziel war die Wiedergabe der Erscheinung dieser Dingwelt. Entsprechend ließe sich Kunst also als Repräsentation zweiter Ordnung beschreiben. Ihr Streben galt der größtmöglichen Kongruenz – und also visuellen Ununterscheidbarkeit – der einen Repräsentationsebene mit der anderen und also der Annäherung der Kunst an die Erscheinungsweise der Dingwelt.
Bekanntlich sollen bereits um 400 vor Chr. die Hauptvertreter der ionischen Malerschule, Xeuxis und Parrhasios, gegeneinander angetreten sein, um sich in ihrer Täuschungsmacht zu messen. Als ein Vogel versuchte an den von Xeuxis gemalten Trauben zu picken, wandte dieser sich siegesgewiss dem Werk seines Kontrahenten zu um den Vorhang beiseite zu ziehen, der es verbarg. Doch dieser war gemalt. Während also Xeuxis Tiere zu täuschen vermochte, war es Parrhasios gelungen, den menschlichen Geist zu irritieren. Dieser Höhepunkt vollendeter Illusion ist zugleich Gipfel wie Niedergang der illusionistischen Malerei. Denn die erfolgreiche Erfüllung des Anliegens größtmöglicher Täuschung, die Xeuxis zu seinem buchstäblichen Fehlgriff verführte, brachte zugleich ihre Enttarnung. Bekanntlich markierte dieses Ereignis aber keineswegs das Ende der Malerei. Dessen ungeachtet, haben die Künstler ihr Bestreben nach einer Scheinwelt fortgeführt, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied. Denn die Täuschung der Kunst wurde von einer faktischen zu einer fiktionalen. In dem Begriff des Trompe-l'oeil wird das Anliegen auf den Punkt gebracht: Ziel ist die Täuschung des Auges, nicht des Geistes. Wir wissen es handelt sich um die plane Wiedergabe eines dreidimensionalen Gegenstands mit Pigment und Öl, doch lassen wir uns zu einer anderen Annahme verführen und verlustieren uns in der Illusion.
In der Kunst des 20. Jahrhunderts hat mit Blick auf das Gesagte ein entscheidender Wandel stattgefunden. Denn die Wiedergabe der Erscheinung von Dingen wurde durch diese Erscheinungen selbst ersetzt. Die Kunst löste sich von ihrer repräsentativen Aufgabe auf mehreren Wegen, unter anderen indem sie Gegenstände nicht mehr darstellte, sondern sie direkt zu nutzen begann und also die Erscheinung eines Gegenstands nicht länger nachahmte. Was als Holz erscheint, ist Holz. Was wie Pappe aussieht, ist Pappe und was wie Müll aussieht, ist Müll. In seiner Theorie der Avantgarde von 1974 hat Peter Bürger diese künstlerische Zeitenwende eindrücklich beschrieben: »Eine Theorie der Avantgarde hat von dem Begriff der Montage auszugehen, wie er von den frühen kubistischen Collagen nahe gelegt wird. Wodurch diese sich von den seit der Renaissance entwickelten Techniken der Bildkonstitution unterscheiden, ist die Einfügung von Realitätsfragmenten in das Bild, d.h. von Materialien, die nicht durch das Subjekt des Künstlers bearbeitet worden sind. Damit wird aber die Einheit des Bildes als eines in allen Teilen von der Subjektivität des Künstlers geprägten Ganzen zerstört. Das Korbgeflecht, das Picasso in ein Bild klebt, mag noch so sehr im Hinblick auf eine kompositorische Intention ausgewählt sein; als Korbgeflecht bleibt es ein Stück Realität, das tel quel, ohne wesentliche Veränderung zu erfahren, dem Bild eingefügt wird. Damit wird ein Darstellungssystem, das auf der Abbildung der Realität und d.h. auf dem Prinzip beruhte, dass das künstlerische Subjekt die Transposition der Wirklichkeit zu leisten habe, durchbrochen. Zwar begnügen sich die Kubisten nicht – wie wenig später Duchamp – damit, ein Stück Wirklichkeit bloß zu zeigen; aber sie verzichten auf die totale Durchgestaltung des Bildraumes als eines Kontinuums.« In diesem Zusammenhang wendet sich Bürger Theodor W. Adorno zu und zitiert ihn: „Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.« So erscheint also in den Darlegungen von Bürger wie Adorno die geschlossene, homogene Bildoberfläche als Ausdruck der Unversehrtheit und Garant für jene Transposition der Wirklichkeit, die durch die Integration von Realitätsfragmenten an den Nagel gehängt wird. Durch die direkte Verwendung von ›Trümmern der Empirie‹, die Adorno passend als ›scheinlos‹ beschreibt, transponiert der Künstler nicht länger die gegenständliche Welt in ein Repräsentationssystem. Mit den Techniken von Collage, Montage, Objet trouvé und Readymade verankert er sich in ihrer Mitte.
Vor diesem Hintergrund verkörpern einige der Gemälde Wolfgang Ellenrieders einen Widerspruch. Denn sie tun nun das eine, ohne das andere zu lassen. Der von Bürger für das frühe 20. Jahrhundert konstatierte Verzicht auf eine ungebrochene, kontinuierliche Durchgestaltung des Bildraumes wird hier in einer erneuten Kehrtwende zum Schein, denn Ellenrieders Gemälde fingieren eine solche Diskontinuität. Sie sind die malerische Fiktion einer Montage. Denken wir an den Anfang dieses Textes zurück, so ist dieses Vorgehen weder neu noch ungewöhnlich. Hatten Gemälde seinerzeit die Erscheinung einer Landschaft oder eine Physiognomie wiedergeben, reproduziert ein Werk wie Oberlicht (s. S. XX) nun eben jene von Montagen. Der Schritt der Transposition, den das Gemälde vollzieht, ist der gleiche. Mit malerischen Mitteln werden hier jene beiden Eigenschaften der Montage imitiert, die für ihre Erscheinung charakteristisch sind: das diskontinuierliche Bildfeld einerseits und die mediale Diversität andererseits. Oberlicht führt uns keinen homogenen Bildraum vor Augen. Die fensterähnlichen Öffnungen geben den Blick auf zwei disparate Naturansichten frei: Durch die eine blicken wir, wie es scheint, auf eine üppige Vegetation, durch die andere auf eine bewegte Meeresoberfläche. Diese unterschiedlichen Ansichten liegen jedoch räumlich derart nahe beieinander, dass sich die Lücke zwischen den beiden gemalten Fenstern in unserer Imagination nicht durch eine homogene Landschaftsdarstellung schlüssig füllen lässt. Vielleicht haben wir es ohnehin nicht mit Fensterausschnitten, sondern mit Leinwänden, Projektionen oder Monitoren zu tun. Die abgerundeten Ecken unterfüttern diese Assoziation. So würden wir das Dargestellte also fälschlich als Repräsentation eines sowohl räumlichen wie zeitlichen Kontinuums zu lesen versuchen. Ähnlich unstimmig wie die einzelnen Fensterausblicke sind im Übrigen auch die Größenverhältnisse der Bildgegenstände. Eine die Bildmitte dominierende Pflanze mit einem Fruchtstand voll weißer Beeren ist unproportional groß und sprengt den Raum, der an einen zusammengezimmerten Schuppen denken lässt. In seiner Decke befindet sich die titelgebende Öffnung, durch die wir in einen leicht wolkigen Himmel blicken.
Doch die Veränderung, die Peter Bürger mit dem Prinzip der Montage in die Kunst hineinbrechen sah, liegt nicht so sehr in dem Verschwinden einer geschlossenen, homogenen Darstellung, als vielmehr in dem Verlust einer solchen Darstellungsweise, der sich in der Kombination von Bestehendem anstelle von Neuschöpfung ausdrückt. Diesen Schritt behält Ellenrieder in seinen Gemälden visuell bei, macht ihn aber materiell rückgängig, indem er eine diskontinuierliche Darstellungsweise imitiert und also ein Erscheinungsbild schafft, das die Erscheinung einer Montage nachahmt. Deren eines Merkmal ist das uneinheitliche Bildfeld; das andere die mediale Diversität. Denn die Diskontinuität der Bildfläche geht mit medialen Brüchen einher. Hier gibt es Schnittkanten und Druckränder, Stellen, in denen unterschiedliche Bildträger einander überlappen und verschiedene Reproduktionstechniken aneinanderstoßen. All das sehen wir auch in Ellenrieders Gemälden – nur eben in der Form des Fake. Eindeutig gemalte und gesprühte Bildpartien gehen mit anscheinend gedruckten und fotografierten, ausgeschnittenen und aufgeklebten Hand in Hand. So kann ein Gemälde wie Oberlicht als Selbstbehauptung einer künstlerischen Tradition gesehen werden, die die Attacke, die im frühen 20. Jahrhundert auf sie ausgeübt wurde, nicht ignoriert, sondern ausgerechnet zu ihrem Bildgegenstand macht und nun ihrerseits die Abschaffung des homogenen Kunstwerks gerade mittels eines solchen zitiert.
Doch ist die Malerei nur ein Teil von Ellenrieders künstlerischer Praxis. In seiner jüngsten Doppel-Ausstellung Hybrid in Wolfsburg und Braunschweig trat das malerische Schaffen gegenüber dem installativ-skulpturalen in den Hintergrund, wobei die Grenzen durchlässig bleiben. »Die dreidimensionalen Arbeiten sind aus meiner Malerei hervorgegangen. Mich interessierte, wie sich die Verschachtelung von Inhalten, Bildräumen und Bildebenen aus der Malerei in den Raum übertragen lässt. Ich wollte herausfinden, ob und wie etwas Ähnliches auch dort möglich ist.« Fassen wir zum Beispiel die beiden raumgreifenden Arbeiten Bidonville (2013) und Haufen (2013) ins Auge, so gibt sich dieser Transfer von einer Gattung in die andere schon deshalb als fließend zu erkennen, weil hier Gemälde zum Bestandteil der skulpturalen Arbeiten werden. Sie sind eines von vielen Materialien, die in ihnen verbaut sind. Wurde also in Ellenrieders Gemälden die Montage zum Bildinhalt und deren Erscheinung imitiert, so werden sie nun ihrerseits zum Bestandteil einer solchen. Doch diese Rückkehr zur ungebrochenen Verwendung einer der Avantgarde geschuldeten Gattung ist falsch. Erneut trügt der Schein. Denn auch in Ellenrieders collageartigen Installationen mit ihren reliefhaften Oberflächen, die weitestgehend aus weggeworfenen und gefundenen Materialien konstruiert scheinen, ist Korbgeflecht nicht unbedingt Korbgeflecht, Holz nicht unbedingt Holz und Pappe nicht unbedingt Pappe. Was als Pressspanplatte erscheint, ist ein durch industrielle Verfahren reproduzierter Druck eines Scans einer ebensolchen Holzoberfläche auf Kunststoff als Trägermaterial. Auch bei der Holzlatte mit deutlich erkennbarer Maserung in etwas irritierender Graufärbung, handelt es sich möglicherweise nicht um die wettergegerbte Patina, sondern um den Druck der Fotografie einer solchen. Und was als schön geschliffenes Massivholz erscheint, ist der hochwertige, vergrößerte Scan eines Stücks Obstkiste. Selbst dort, wo etwas, das wie Pappe aussieht auch in der Tat aus Pappe ist, könnte unser Blick zwar auf das Bild einer Pappe fallen, nur eben nicht auf jene, die sich hinter dieser Erscheinung verbirgt.
Es ist also ein Parforceritt der Illusionen, mit dem uns diese Skulpturen mit unserer routinierten Handhabung von ›echt‹ versus ›gefälscht‹ und ›Ding‹ versus ›Bild‹ in die Falle locken. Denn im Angesicht einer Arbeit wie Bidonville werden diese Kategorisierungen durch das inszenierte Verwirrspiel alles andere als selbstverständlich. Zuweilen führt die Perfektion der in den Installationen verwendeten Reproduktionstechniken sogar dazu, dass wir trotz aller Skepsis in jenen Zustand der Unwissenheit zurückkatapultiert werden, dem Xeuxis einst verfiel. Denn immer wieder lassen uns die Latten, Gitter, Bretter und Pappen darüber im Zweifel, ob es sich bei ihnen um jene Dinge handelt oder um Abbilder davon. So ergehen wir uns vermutlich eine Weile in der detektivischen Differenzierung von ›Wesen‹ versus ›Erscheinung‹, ›Wahrheit‹ versus ›Illusion‹ und ›Ding‹ versus ›Reproduktion‹. Aber recht rasch wird man der Müßigkeit dieses Unterfangens gewahr und gelangt damit nicht nur zum Kern der Skulpturen, sondern auch zu dem zentralen Anliegen dieses Buches. Denn in den Gemälden und Skulpturen und auch in diesem Buch gilt das Augenmerk weder der Rehabilitation präavantgardistischer Unversehrtheit noch der Affirmation avantgardistischer Dichotomien. Vielmehr geht es um die Frage, inwieweit die Kategorisierungen, die sich gerade aus dem künstlerischen Umschwung zu Anfang des 20. Jahrhunderts ergaben, der heutigen künstlerischen Produktion gerecht werden.
Ein solches Gegensatzpaar, dass durch die künstlerischen und medialen Ausweitungen der Avantgarde gerade nicht ins Aus, sondern ins Zentrum gestoßen wurde, ist jenes von Original und Reproduktion. »Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion«, so hatte Walter Benjamin in seinem berühmtesten Aufsatz in den 1930er Jahren geschrieben, »fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es sich befindet.« Mit dieser Trennung in künstlerische Produktion und deren reproduzierte Wiedergabe, verwarf er nicht etwa die Nutzung technischer Reproduktionsmittel als Teil künstlerischer Praxis. Benjamin bezieht sich vielmehr auf das, was der Leser vor Augen hat, wenn er durch dieses Buch blättert und was unsere Rezeption von Kunstwerken dominiert: ihre Reproduktion in Publikationen. »Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit«, erläutert er weiter und untermauert damit den Gegensatz zwischen der einmaligen Existenz eines Kunstwerks und dessen massenhafter Vervielfältigung als Reproduktion. Bekanntlich geht für Benjamin der Verlust der singulären Existenz und der Gebundenheit eines Kunstwerks an einen einzigen Ort, mit dem Verschwinden seiner Aura einher. Aber das ist bei Weitem nicht der einzige Verlust. Auf einer viel greifbareren Ebene führt die Reproduktion, und also die Übersetzung in ein anderes Medium, zu einer Reduktion von Informationen, zum Beispiel hinsichtlich der Textur der Pinselstriche, der Porosität einer Oberfläche, der Führung des Meißels, der Mattheit oder dem Glanz einer Oberfläche, der Unebenheit von Schnittkanten und so weiter.
Jede Reproduktionstechnik vollzieht entsprechend ihrer medialen Eigenschaften die bestmögliche Simulation der Erscheinung eines Kunstwerks. Dabei geht es nicht nur darum, etwas Dreidimensionales – und sei es nur die erhabene Textur von Ölfarbe – auf eine Fläche zu reduzieren. Es geht zum Beispiel auch darum, die farbliche Vielfalt einer Palette zu simulieren. Bei den allermeisten Reproduktionen, mit denen wir es heute zu tun haben, geschieht dies nicht durch faktische, sondern optische Farbmischung und zwar von nur vier Farben: Schwarz, Cyan, Magenta und Gelb. In dieser Reihenfolge legt die Druckmaschine ein jeweils einfarbiges Druckraster in leicht verschobenem Winkel übereinander, sodass die Druckpunkte teils neben, teils übereinander liegen. Durch die Feinheit der Raster und die Begrenztheit unserer optischen Wahrnehmung werden weder die Punkte noch die Farben als separate Elemente wahrgenommen. Die Konturen der Gegenstände und deren Farbigkeit ergibt sich in unserem Auge und durch die Distanz der Betrachtung. Durch die Begrenzung auf vier Farben handelt es sich nicht um ein Reproduktionssystem von größtem Reichtum, sondern größtmöglicher Effizienz. Denn es sind jene vier Töne aus deren Kombination sich eine maximale Farbvielfalt mischen lässt. Die Veränderung dieser vier Farbtöne reduzierte das Spektrum. Die Hinzunahme zusätzlicher Druckfarben (insbesondere von Orange und Grün) würde dieses Spektrum zwar erweitern, den Aufwand des Druckvorgangs aber überproportional vergrößern. Entsprechend bietet das CMYK-Farbmodell also die effizienteste Farbmischung zur bestmöglichen Simulation jenes Spektrums, das wir aus unserer visuellen Wahrnehmung kennen.
Auch Ellenrieder benutzt in diesem Buch das CMYK-Modell, aber nicht durchgehend. Während Gemälde und Installationsansichten in diesem Vierfarb-Modus reproduziert sind, gibt es andere Abbildungen, die sich deutlich hiervon unterscheiden. In ihnen ist lediglich das Schwarz beibehalten und wird durch zwei Sonderfarben, nämlich ein helles, warmes Graubraun und Gold, ergänzt. Dies führt nicht nur durch die Reduktion von vier auf drei Farben zu einer extremen Einschränkung des Farbspektrums, sondern eben auch durch die zur Mischung weit weniger geeigneten Farbtöne. In der Folge reduziert sich die Fähigkeit, eine Erscheinung farblich möglichst akkurat zu simulieren. Unausweichlich entfernt sich die Abbildung von ihrer Vorlage, deren Erscheinung – beispielsweise ein Gemälde, eine Skulptur oder ein Raum – wir uns in einem Zusammenspiel zwischen dem, was uns die Reproduktion zeigt, und dem, was wir aus unserer Erfahrung wissen, rekonstruieren. Dabei sind wir es gewöhnt, zuweilen eklatante Abweichungen der Reproduktion von ihrem Gegenstand mittels unserer Erfahrung zu überbrücken und uns von Unstimmigkeiten zwischen Abbild und Abgebildetem, beispielsweise der s/w-Fotografie einer farbenfrohen Szenerie, nicht irritieren zu lassen.
Dieser geübte Vorgang der Rekonstruktion der Erscheinung eines Gegenstands auf Basis seiner Reproduktion ist im Fall der Triplex-Drucke in diesem Buch deutlich erschwert. Soweit wir aus den Reproduktionen schließen können, sind die Werke aus unterschiedlichen Medien zusammengesetzt. So scheint es sich beispielsweise bei dem Blatt goldene Kammer (s. S. 121) um die Reproduktion einer etwas überbelichteten s/w-Fotografie zu handeln, die allerdings an einem der Bildränder unerklärlich farbig wird. Auf diese Reproduktion scheint mit goldenem Stift gezeichnet und eine ebenfalls goldene, grob gerasterte Fläche aufgedruckt zu sein, die sich in ihrem Verlauf zu einem dreidimensionalen Baukörper wandelt. Aber unser Versuch von dieser Reproduktion auf die materielle Disposition des abgebildeten Werks zu schließen, sollte durch unsere Kenntnis von Ellenrieders Gemälden und skulpturalen Arbeiten von Skepsis geprägt sein. Vielleicht haben wir es auch hier – wie bei dem Gemälde Oberlicht – gar nicht mit etwas medial und materiell Inhomogenem zu tun, sondern mit dessen visueller Nachahmung. Diese Unterscheidung fällt vor der Reproduktion schwerer als vor dem Original. Eine Unstimmigkeit zwischen der Erscheinung und dem Wesen eines Gegenstands, wie sie den Skulpturen Bidonville und Haufen zu eigen ist, ist anhand ihrer Reproduktion sogar kaum mehr dingfest zu machen. Hier bräuchte man in der Tat jene Warnung ›Ceci n'est pas une pipe‹, die Magritte in seinem Gemälde Der Verrat der Bilder unter die Pfeife schrieb um jedweder Verwechslung zwischen Ding und Abbild vorweg zu greifen. »Das hier ist keine Pappe, kein Holz, kein Pressspan«, könnte Ellenrieder entsprechend seinen Installationen beifügen und den Satz »Das hier ist keine Montage« einem Gemälde wie Oberlicht.
Im Falle von Ohne Titel XX wäre eine solche Warnung besonders hilfreich. Aber sie würde anders lauten: »Das hier ist keine Reproduktion.« Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu Oberlicht, Bidonville, Haufen und all den anderer Arbeiten, die in diesem Buch reproduziert werden. Denn hier haben wir es gar nicht mit der Abbildung eines Kunstwerks zu tun, sondern mit diesem selbst. Diese Feststellung ist von einschneidender Bedeutung, denn durch sie wird jenes Verhältnis von Produktion und Reproduktion über den Haufen geworfen, das für Walter Benjamins Grenzziehung zwischen einmaliger künstlerischer Schöpfung und deren massenhaften Wiedergabe grundlegend war. Diese Unterscheidung wird hinfällig, wenn wir es mit Kunstwerken zu tun haben, die überhaupt erst im Akt des Buchdrucks und also mannigfach entstehen. So lässt sich hier weder sinnvoll zwischen Original und Vervielfältigung unterscheiden, zwischen dem Werk und seinem Abbild, noch existiert die Kunst außerhalb des Reproduktionsmediums. Durch die Nutzung von Reproduktionstechniken zur künstlerischen Produktion geraten also Kategorien auf den Prüfstand, die aus einer anderen Zeit und einem anderen künstlerischen Klima stammen, aber unserer Rezeption von Kunst nach wie vor genauso unverbrüchlich wie unter Umständen hinderlich eingeschrieben sind.
Dorothée Brill in
›Wolfgang Ellenrieder – Hybrid‹,
Lubok Verlag Leipzig, 2015